Neues aus Leverkusen


HemoTicker 2/23

Die Beobachtungsstudie HEM-POWR beleuchtet Jivi® im Praxisalltag 

Die Standardbehandlung für Hämophilie A ist die Prophylaxe mit einer Faktor VIII (FVIII)-Ersatztherapie. Anders als die Therapien mit Standardhalbwertszeit (SHL) können FVIII-Produkte mit verlängerter Halbwertszeit (EHL) nicht nur die Therapielast verringern, sondern auch die Compliance verbessern, indem sie die Injektionshäufigkeit reduzieren.[1]

Jivi® bietet flexible Prophylaxe-Regimes 

Damoctocog alfa pegol (BAY 94-9027/Jivi®) ist ein PEGyliertes rekombinantes Faktor-VIII (rFVIII)-Produkt mit verlängerter Halbwertszeit (Extended-Half-Life, EHL) für vorbehandelte Patienten mit Hämophilie A im Alter von ≥12 Jahren. Eine Besonderheit von Jivi® sind seine flexiblen Prophylaxe-Regimes (45-60 IE/kg alle 5 Tage, 60 IE/kg alle 7 Tage oder 30-40 IE/kg zweimal wöchentlich).[2]


HEM-POWR – Hintergrund 

Die laufende, multinationale, multizentrische, nicht-interventionelle, prospektive Postmarketing-Kohortenstudie HEM-POWR (NCT03932201) beurteilt Wirksamkeit und Sicherheit von Jivi® im klinischen Alltag. An der Beobachtungsstudie nehmen Patienten mit Hämophilie A teil, die Jivi® als On-Demand, Prophylaxe oder intermittierende Prophylaxe (gemäß lokaler Zulassung) erhalten und 36 Monate lang beobachtet werden. Primäre Endpunkte umfassen die Gesamtzahl der Blutungsereignisse und die annualisierte Blutungsrate (ABR). Zu den sekundären Endpunkten gehören Langzeitsicherheit, Gelenkgesundheit, Pharmakokinetik, Patient-Reported-Outcomes und perioperative Hämostase. Ferner werden auch die Gründe für die Umstellung auf Damoctocog alfa pegol, die Wahl des Behandlungsschemas und der Dosierung erfasst. Bis jetzt wurden bereits mehr als 300 Patienten eingeschlossen. 

Sanabria M, Álvarez Román MT, Castaman G, Janbain M, Matsushita T, Meijer K, Oldenburg J, Friedl S, Reding MT. Design of the HEM-POWR study: a prospective, observational study of real-world treatment with damoctocog alfa pegol in patients with haemophilia A. BMJ Open. 2021 Sep 2;11(9):e044997. doi: 10.1136/bmjopen-2020-044997. PMID: 34475142; PMCID: PMC8413870 

Weitere Literatur: 

  1. Santagostino E, Kenet G, Fischer K, Biss T, Ahuja S, Steele M. PROTECT VIII Kids: BAY 94-9027 (PEGylated Recombinant Factor VIII) safety and efficacy in previously treated children with severe haemophilia A. Haemophilia. 2020 May;26(3):e55-e65. doi: 10.1111/hae.13963. Epub 2020 Mar 25. PMID: 32212300; PMCID: PMC7317355.

  2. Reding MT, Ng HJ, Poulsen LH, Eyster ME, Pabinger I, Shin HJ, Walsch R, Lederman M, Wang M, Hardtke M, Michaels LA. Safety and efficacy of BAY 94-9027, a prolonged-half-life factor VIII. J Thromb Haemost. 2017 Mar;15(3):411-419. doi: 10.1111/jth.13597. Epub 2017 Feb 22. PMID: 27992112.

    Auf dem diesjährigen ISTH in Montréal stellten Mark T. Reding et al. Ergebnisse der dritten Interims-Subgruppenanalyse der HEM-POWR zur Wirksamkeit und Sicherheit von Jivi® bei Patienten mit Hämophilie A vor – die alle 5 (E5D) oder alle 7 Tage (E7D) mit Jivi® behandelt wurden. 

    Die in die Sicherheitsanalyse (SAF) eingeschlossenen Patienten hatten ≥1 Studiendosis (E5D oder E7D) im Beobachtungszeitraum erhalten. Die vollständige Analyse (FAS) umfasste Patienten, die alle Einschlusskriterien erfüllten und eine dokumentierte erste Studienmedikation und ≥1 Injektion während des Beobachtungszeitraums bekamen.


    Keynote Statement 

    Bei den betrachteten Dosisregimen alle 5 bzw alle 7 Tage zeigte Jivi® ein gutes Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil bei vorbehandelten Patienten (PTPs) mit Hämophilie A in einem „Real-World“-Setting. 

    Außerdem verbesserten sich sowohl die jährliche Blutungsrate (ABR; primärer Endpunkt) als auch die Gelenkgesundheit (sekundärer Endpunkt) im Vergleich zu der Zeit vor dem Umstieg auf die Therapie mit Jivi® – ein Ergebnis, das darauf hindeutet, dass die Prophylaxe-Schemata E5D und E7D ein tragfähiges Therapiekonzept im Praxisalltag darstellen.   

    Auch das Sicherheitsprofil (sekundärer Endpunkt) stimmte unter den Therapie-Regimes E5D und E7D mit dem Standarddosierungsschema (zweimal wöchentlich) überein – arzneimittelbedingte unerwünschte Ereignisse oder Behandlungsabbrüche wurden nicht berichtet. 


    Zum Zeitpunkt des Daten-Cut-offs am 17. August 2022 waren 161 Patienten in die FAS eingeschlossen. 54 Patienten hatten bei der initialen Visite entweder E5D (n=31) oder E7D (n=23) erhalten. 

    Die Ausgangs-Charakteristika waren in beiden Gruppen ähnlich. In der FAS betrug der mediane (Q1, Q3) Beobachtungszeitraum in der E5D-Gruppe 323,0 (183,0, 464,0) und in der E7D-Gruppe 331,0 (152,0, 428,0) Tage. Das mediane (Q1, Q3) Alter der Patienten lag unter E5D bei 28 (21,0; 45,0) und unter E7D bei 38 Jahren (32,0; 58,0). Die meisten eingeschlossenen Patienten kamen aus Japan (E5D: n=4; 12,9 %; E7D: n=12, 52,2 %), gefolgt von den USA (E5D: n=8; 25,8 %; E7D: n=2; 8,7 %) und Deutschland (E5D: n=6; 19,4 %; E7D: n=3, 13,0 %). 

    Bei Studienbeginn lag der Anteil der Patienten in der E5D-Gruppe mit schwerer Hämophilie A bei 87,1 % (n=27/31) und mit nicht-schwerer (mittelschwerer und milder) bei 9,7 % (mittelschwer: n=2/31, mild: n=1/31; 1 Patient fehlt). 73,9 % (n=17/23) der Patienten mit schwerer Hämophilie A und 26,1 % mit nicht-schwerer Erkrankung (mittelschwer: n=5/23, mild: n=1/23) bekamen das E7D-Prophylaxeschema. 

    Blutungskontrolle

    Die Patienten unter beiden Prophylaxe-Regimes profitierten von Jivi®: Unter E5D betrug die mediane (Mittelwert, SD) Gesamt-ABR während des Beobachtungszeitraums 0,0 (0,8; 1,2) und in der E7D-Gruppe 0,0 (1,8; 5,5). Zum Vergleich: In den 12 Monaten vor Beginn der Therapie mit Jivi® lag die mediane (Mittelwert, SD) Gesamt-ABR entsprechend bei 3,0 (5,1, 8,5) und 1,5 (3,5, 6,1). Die ABR verbesserte sich im Median (Mittelwert, SD) während des Beobachtungszeitraums mit Jivi® gegenüber der Zeit vor Beginn der Jivi®-Behandlung um – 1,5 (- 4,3; 8,2) für das E5D-Prophylaxe-Regime und um -1,2 (-1,7, 2,2) für E7D. 

    Abbildung 1 zeigt die ABR vor Beginn der Jivi®-Therapie und während des Beobachtungszeitraumes für die Gruppen E5D und E7D (FAS). 
    Hier geht es zum Download von Abbildung 1. Bitte mit pdf Jivi HEMPOWR Abbildung 1 verlinken. 

    Gelenkgesundheit

    Bezüglich der betroffenen Gelenke waren vor Beginn der Jivi®-Therapie im Median (Mittelwert, SD) 1,0 (1,5, 2,0) Gelenke pro Patienten in der E5D-Gruppe betroffen und 1,0 (1,3, 2,0) in der E7D-Gruppe. Bei der ersten Nachuntersuchung[1] lag die Zahl der betroffenen Gelenke/Patienten bei 0,0 (0,7, 1,6) für E5D und bei 0,0 (0,8, 1,8) für E7D. In den 12 Monaten vor dem Wechsel auf Jivi® hatten 45,2% (n=14/31) der Patienten in der E5D-Gruppe keine betroffenen Gelenke versus 73,7% (n=14/19) im 1. Follow-up-Fenster unter Jivi®. In der E7D-Gruppe waren es entsprechend 47,8% (n=11/23) gegenüber 66,7 % (n=10/15).

    Sicherheit

    In der Sicherheitspopulation wurden bei 29,4 % (n=15/51) der Patienten in der E5D-Gruppe und bei 13,2 % (n=5/38) in der E7D-Gruppe behandlungsbedingte unerwünschte Ereignisse (TEAEs) dokumentiert. Arzneimittelbedingte TEAEs, Therapieabbrüche oder Todesfälle traten keine auf. 

      Chandler et al. präsentierten auf dem ISTH 2023 zwei Poster, die auf einer Auswertung von Daten des ATHNdataset[1] basieren. Beim ATHNdataset handelt es sich um eine dem Health Insurance Portability and Accountability Act-konforme, anonymisierte Datenbank, gesponsert vom American Thrombosis and Hemostasis Network. Die Daten wurden von Mitarbeitern der ATHN angeschlossenen Hämophilie-Behandlungszentren in den USA erhoben. Die Datenbank enthält aktuell Daten von 17.109 Patienten mit Hämophilie A. 

      Wechsel von Emicizumab zu Jivi® oder Kovaltry® 

      Bislang gab es nur wenige Daten zur Umstellung von Hämophilie A Patienten von Emicizumab auf FVIII-Produkte. Kürzlich untersuchten Chandler et al. (2023) anhand von Real-Word-Daten aus dem ATHNdataset (n=17.109 Hämophilie-A-Patienten) die jährlichen Blutungsraten (ABR) von Patienten mit Hämophilie A, die von Emicizumab entweder auf Jivi® oder Kovaltry® umstiegen.  

      Die drei Studien-Medikamente im Überblick:   

      • Hemlibra® (Emicizumab) ist ein bispezifischer monoklonaler Antikörper, der die Aktivität des Gerinnungsfaktors VIII (FVIII) durch Überbrückung von FIXa und FX1 nachahmt.[2]
      • Bei Jivi® (Damoctocog alfa pegol) handelt es um ein PEGyliertes rekombinantes Faktor-VIII (rFVIII)-Produkt mit verlängerter Halbwertszeit (Extended-Half-Life, EHL) für vorbehandelte Patienten mit Hämophilie A im Alter von ≥12 Jahren.[3]
      • Kovaltry® (Octocog alfa) ist ein humaner rekombinanter Blutgerinnungsfaktor VIII mit Standard-Halbwertszeit (SHL), der in allen Altersgruppen zur Behandlung und Prophylaxe von Blutungen bei Patienten mit Hämophilie A eingesetzt wird.[4]  


      Der ATHN-Datensatz enthielt Daten von 205 Patienten, die zwischen dem 1. Januar 2010 und 30. April 2022 mit BAY 94-9027 (Damoctocog alfa pegol, Jivi®) behandelt wurden und von 354 Patienten, die eine Therapie mit BAY 81-8973 (Octocog alfa, Kovaltry®) bekamen; entweder als Prophylaxe oder On-Demand. Davon hatten 26 zuvor eine Therapie mit Emicizumab (Hemlibra®) erhalten, bevor sie auf Jivi® (n=9) oder Kovaltry® (n=17) wechselten. Die Gründe für den Umstieg waren im Datensatz nicht ersichtlich. 


      Keynote Statement

      Das Ergebnis zeigte konstante jährliche Blutungsraten (ABRs) nach der Umstellung von Emicizumab auf Jivi® oder Kovaltry®. 


      Wechsel auf Jivi®

      • Bei den 9 (4,4%) Patienten, die von Emicizumab auf Jivi® wechselten, lag die Einnahmedauer von Emicizumab im Durchschnitt bei 0,4 [Bereich: 0-1,4] Jahren.  
        • 8 Patienten mit schwerer Hämophilie A, wovon 3 prophylaktisch behandelt wurden. 4 waren unter On-Demand und 1 Patient erhielt eine Toleranzinduktion. 
        • Der einzige Patient mit mittelschwerer Hämophilie A war unter Prophylaxe. 

      • Vor der Umstellung betrug die mittlere ABR für alle 9 Patienten unter Emicizumab 0,25 – nach dem Wechsel lag sie bei 0. 
        • Die Patienten wurden durchschnittlich 1,5 (Range 0,11-2,33) Jahre mit Jivi® behandelt. 

       

      Tabelle 1 stellt die ABRs für einzelne Patienten dar, deren ABR vor dem Wechsel auf Jivi® unter Emicizumab >0 war. 

              Patient

      ABR unter Emicizumab

      ABR nach dem Wechsel

      A

      1,3

      0

      B

      1,9

      0


      Tabelle 1: Die ABRs für einzelne Patienten, die vor dem Wechsel auf Jivi® unter Emicizumab eine ABR >0 aufwiesen. Alle anderen Patienten hatten vor und nach der Umstellung auf Jivi® eine ABR von 0. 

      Wechsel auf Kovaltry® 

      • Die 17 Patienten (8,3 %), die von Emicizumab auf Kovaltry® umgestellt wurden, hatten im Durchschnitt zuvor 6 Monate (Range 0,03-2,1 Jahre) eine Therapie mit dem Antikörper bekommen. 

        • 11/17 Patienten waren an einer schweren Hämophilie A erkrankt. Davon wurden 10 On-Demand und 1 prophylaktisch therapiert. 

        • Von den 5 Patienten mit mittelschwerer Erkrankung erhielt 1 eine Prophylaxe und 4 wurden On-Demand therapiert.  

        • 1 Patient wies eine milde Hämophilie A auf und war unter On-Demand Behandlung.  
           

      • Unter Emicizumab lag die durchschnittliche ABR bei 1,5 – nach der Umstellung auf Kovaltry® wurde im Mittel eine ABR von 0,17 dokumentiert. 

        • Die durchschnittliche Therapiedauer von Kovaltry® belief sich auf 1,7 (Range 0-3,9) Jahre. 

       

      Tabelle 2 zeigt die ABRs für einzelne Patienten, die während der Behandlung mit Emicizumab eine ABR >0 hatten, bevor sie auf Kovaltry® wechselten. 

              Patient

      ABR unter Emicizumab

      ABR nach dem Wechsel

      C

      2,9

      0

      D

      1,3

      0

      E

      4,2

      1,3

      F

      5,5

      0

      G

      0,6

      0

      H

      4,2

      0,6

      I

      4,6

      0,6


      Tabelle 2: Die ABRs für einzelne Patienten, die vor dem Wechsel auf Kovaltry®  unter Emicizumab eine ABR >0 hatten. Alle anderen Patienten zeigten vor und nach der Umstellung auf Kovaltry® eine ABR von 0, mit Ausnahme eines Patienten, der unter Emicizumab eine ABR von 0 aufwies und unter Kovaltry® eine ABR von 0,28. 

      Martin Chandler, Jessica Charlet, Thomas Moulton. Real-world data on patients with hemophilia A switching to either BAY 94-9027 or BAY 81-8973 from emicizumab using the ATHNdataset. Poster PB0672, vorgestellt auf dem ISTH 2023 in Montreal vom 24.-28. Juni. 

      Weitere Literatur: 

      1. ATHN. Available from: https://athn.org/what-we-do/national-projects/athndataset.html; letzter Zugriff August 2023. 

      2. Fachinformation Hemlibra®, März 2023.

      3. Fachinformation Jivi®, Juni 2023. 

      4. Fachinformation Kovaltry®, Juni 2023. 

       

      Gelenkbeweglichkeit bei weiblichen Patienten mit Hämophilie A 

      Gelenkblutungen gehören zu den häufigsten klinischen Manifestationen der Hämophilie A[1] – Ereignisse, die bei wiederholtem Auftreten mit eingeschränkter Beweglichkeit, reduzierter „Range of Motion“ (ROM) und Arthropathie einhergehen [2,3]. Hinzu kommt, dass bereits eine einzige Gelenkblutung ausreicht, um das Gelenk zu schädigen [3-5].

      Während bekannt ist, dass Gelenkblutungen bei männlichen Hämophilie-Patienten häufig auftreten,[2] gibt es dazu wenig Erkenntnisse bei weiblichen Patienten. Chandler et al. (2023) untersuchten die eingeschränkte ROM bei Frauen mit Hämophilie A. In die Analyse sollten Daten von Patientinnen aus dem ATHNdataset (n-Gesamt=17.109) eingeschlossen werden, die entweder mit BAY 94-9027 (Damoctocog alfa pegol, Jivi®) oder mit BAY 81-8973 (Octocog alfa, Kovaltry®) vom 1. Januar 2010 bis 30. April 2022 behandelt wurden. Für die hier berichtete Analyse standen 354 Daten von mit Kovaltry® behandelten Patienten zur Verfügung, darunter 13 Frauen. Von Jivi®-Patientinnen gab es keine entsprechenden Daten. ROM-Daten waren von 5 der 13 Patientinnen verfügbar, die zum Untersuchungszeitpunkt Kovaltry® erhielten. Die ROM-Daten dieser 5 Patientinnen wurden mit Centers for Disease Control and Prevention (CDC)-Normwerten altersgleicher Frauen verglichen.[6]  


      Keynote Statement

      Bei Frauen ist Hämophilie wahrscheinlich unterdiagnostiziert – zu diesem Ergebnis kommen Literaturrecherchen, außerdem beinhaltet der ATHNdataset nur wenige Daten für diese Patientengruppe. 

      Wie die „Real-World“-Studie von Chandler et al. auf Basis der aktuell vorhandenen Daten im ATHNdataset herausfand, weisen Frauen mit Hämophilie A trotz nahezu normalem Faktor-VIII-Spiegel und milder Erkrankung eine ähnlich hohe ROM auf wie männliche Patienten. 

      Es wird angenommen, dass: 

      • die Bewegungseinschränkungen der Gelenke bereits vor der Pubertät beginnen und möglicherweise mit einer fehlenden Behandlung aufgrund der Unterdiagnose assoziiert sind. 
      • dass weibliche Patienten mit Hämophilie A in den oberen Extremitäten weniger Gelenkschäden haben als in den unteren Extremitäten.
         

      Die Studienautoren empfehlen, Frauen mit einem veränderten Faktor-VIII-Gen in Hämophilie-Behandlungszentren lebenslang engmaschig zu überwachen und als Hämophilie-Patientinnen einzustufen, wenn Komplikationen auftreten. Die Diagnose bei Frauen sollte zudem nicht anhand der Kriterien für Männer erfolgen, sondern nach dem Blutungs-Phänotyp.   

      Es sei weitere Forschung, einschließlich systematischer Daten über die Entwicklung der Gelenk-ROM bei Frauen mit Hämophilie A erforderlich, schließen Chandler et al. 


      Die Auswertung der Studie ergab: Alle 5 Patientinnen mit Hämophilie A mit vorhandenen ROM-Daten waren an einer milden Hämophilie A erkrankt. Der Ausgangswert des Faktor-VIII-Aktivität reichte von 21 % bis 41 %. 

      Jede der 5 Patientinnen zeigte im Vergleich zu den CDC-Normwerten eine reduzierte ROM an mehreren Gelenken. Die Einschränkung der ROM war in den Gelenken der unteren Extremitäten stärker ausgeprägt als in den Gelenken der oberen Extremitäten, insbesondere in den Knöcheln, Hüften und Knien. Auch bei männlichen Patienten sind Indexgelenke (Knöchel, Knie und Ellenbogen) am häufigsten betroffen.[1] 

      Tabelle 1 zeigt die Patientinnen-Charakteristika, Krankengeschichte und ROM-Daten der 5 weiblichen Hämophilie-A-Patienten. Hier geht es zum Download von Tabelle 1.

      Martin Chandler, Lena Charafi, Thomas Moulton, Michael Recht. Joint range of motion findings among female patients with hemophilia A from the ATHNdataset. Poster PB1291, vorgestellt auf dem ISTH 2023 in Montreal vom 24.-28. Juni. 

      Weitere Literatur: 

      1. Knobe K, Berntorp E. Haemophilia and joint disease: pathophysiology, evaluation, and management. J Comorb. 2011 Dec 27;1:51-59. doi: 10.15256/joc.2011.1.2. PMID: 29090136; PMCID: PMC5556421.

      2. Sidonio RF, Mili FD, Li T, Miller CH, Hooper WC, DeBaun MR, Soucie M; Hemophilia Treatment Centers Network. Females with FVIII and FIX deficiency have reduced joint range of motion. Am J Hematol. 2014 Aug;89(8):831-6. doi: 10.1002/ajh.23754. Epub 2014 May 21. PMID: 24838518; PMCID: PMC4477796.

      3. Gooding R, Thachil J, Alamelu J, Motwani J, Chowdary P. Asymptomatic Joint Bleeding and Joint Health in Hemophilia: A Review of Variables, Methods, and Biomarkers. J Blood Med. 2021 Apr 1;12:209-220. doi: 10.2147/JBM.S304597. PMID: 33833602; PMCID: PMC8023018.

      4. van Vulpen LF, van Meegeren ME, Roosendaal G, Jansen NW, van Laar JM, Schutgens RE, Mastbergen SC, Lafeber FP. Biochemical markers of joint tissue damage increase shortly after a joint bleed; an explorative human and canine in vivo study. Osteoarthritis Cartilage. 2015 Jan;23(1):63-9. doi: 10.1016/j.joca.2014.09.008. Epub 2014 Sep 16. PMID: 25219667.

      5. Vøls KK, Kjelgaard-Hansen M, Ley CD, Hansen AK, Petersen M. In vivo fluorescence molecular tomography of induced haemarthrosis in haemophilic mice: link between bleeding characteristics and development of bone pathology. BMC Musculoskelet Disord. 2020 Apr 14;21(1):241. doi: 10.1186/s12891-020-03267-5. PMID: 32290832; PMCID: PMC7158129.

      6. Centers for Disease Control and Prevention. Normal Joint Range of Motion Study. Available from: https://www.cdc.gov/ncbddd/jointrom/index.html. Letzter Zugriff: 10. Mai 2023

        Folge 2: Die Ergebnisse

        Die Methodik wurde in Ausgabe 1 erklärt:

        Hämophilie und Osteoporose: Die weltweit größte Studie untersucht den Zusammenhang in Ausgabe 1/2023.   

        zum Nachlesen
        • Patienten mit Hämophilie weisen eine signifikant niedrigere Knochendichte auf, im Vergleich zu gleichaltrigen Gesunden.[1] 
        • Eine monozentrische prospektive Kohortenstudie untersuchte den Zusammenhang zwischen Hämophilie und Osteoporose. 
        • Eingeschlossen wurden 250 Patienten mit Hämophilie. Davon hatten 50 eine milde Verlaufsform, 50 eine moderate und 150 waren von einem schweren Verlauf betroffen. 

         

        Tabelle 1 gibt einen Überblick der anthropometrischen Daten, stratifiziert nach Schweregrad der Hämophilie: 

        Variable

        Schwer

        (n=150)

        Mittelschwer

        (n=53)

        Mild
        (n=52)

        Total  

        (n=255)

        Alter (Jahre; MW±Stabw)

        41,7±14,6

        46,3±15,2

        45,3±17,5

        43,4±15,4

        BMI (MW±Stabw)

        26,2±5,2

        26,7±5,0

        26,8±4,4

        26,4±5,0

        Hämophilie A (n (%))

        134 (89,3)

        42 (79,2)

        45 (86,5)

        221 (86,7)

        Hämophilie B (n (%))

        16 (10,7)

        11 (20,8)

        7 (13,7)

        34 (13,3)

        Behandlungs-
        regime

        Prophylaxe 
        (n (%))

        Bei Bedarf 
        (n (%))

        139 (97,2)


        4 (2,7)

        17 (32,1)


        34 (64,2)

        1 (2,0)


        49 (98,0)

        158 (64,3)

        87 (35,7)

        HJHS (Punkte, MW±Stabw)

        22,7±18,7

        10,0±8,2

        9,9±9,4

        17,5±16,6

        HIV (n (%))

        32 (21,3)

        3 (5,7)

        3 (5,8)

        38 (14,9)

        Hepatitis C (n (%))

        17 (11,3)

        2 (3,8)

        1 (2,0)

        20 (4,6)

        Tabelle 1: Die anthropometrischen Daten, stratifiziert nach Schweregrad der Hämophilie. 

        Prävalenz der Osteoporose

        Nach den Klassifikations-Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) lag bei 13,7% eine Osteoporose vor und bei 46,7% eine Osteopenie – eine Vorstufe der manifesten Osteoporose. Zum Vergleich: In der Normalbevölkerung sind 9,7 % der Männer in Europa von einer Osteoporose betroffen.[2]

        • Wichtige Parameter kurz erklärt: Wird die Knochenmineraldichte (BMD) ermittelt, sind die beiden Werte T-Score und Z-Score relevant. Der T-Score zeigt, wie stark die gemessene Knochendichte von der Knochendichte junger, gesunder Erwachsener abweicht. Bei einem T-Score < -2,5 liegt eine Osteoporose vor. Wird ein T-Score zwischen -1,0 und -2,5 ermittelt, handelt es sich um eine Osteopenie. Ein Vergleich des Knochendichtewerts mit einer Normalperson des gleichen Alters und Geschlechts ergibt den Z-Score. 

        Ergebnisse – Knochenmineraldichte 

        Bei den Patienten mit schwerer oder mittelschwerer Hämophilie wurde eine stärkere Abnahme der BMD beobachtet, im Vergleich zu den Patienten mit milder Hämophilie (Tabelle 2).  

        Variable

        Schwer
        (n=150)

        Mittelschwer 
        (n=53)

        Mild
        (n=52)

        Total 
        (n=255)

        p-Wert

        BMD Hüfte (neck links) (g/cm2, M±SD)

        0,807±0,139

        0,827±0,133

        0,907±0,229

        0,833±0,139

        0,002*

        BMD Hüfte (neck rechts) (g/cm2, M±SD)

        0,815±0,144

        0,829±0,146

        0,906±0,180

        0,837±0,157

        0,002*

        BMD LWS

        (g/cm2, M±SD)

        0,987±0,147

        1,016±0,146

        1,024±0,150

        1,001±0,148

        0,255

        Niedrigster T-Score

        -1,4±0,8

        -1,2±1,0

        -1,1±1,1

        -1,3±0.,9

        0,216

        Tabelle 2: Knochenmineraldichte, nach Schweregrad der Hämophilie.

        Die Altersgruppe 18-24 Jahre hat eine mittlere BMD von 0,959±0,170 (Z-Score-Berechnung). Beachtenswert ist, dass 6 von 32 jungen Hämophilie-Patienten einen Z-Score von < -2,0 aufwiesen. 

        Außerdem war bei Patienten unter FVIII-Präparaten mit verlängerter Halbwertszeit (Extended-Half-Life, EHL) der durchschnittliche BMD-Wert höher gegenüber Patienten unter FVIII-Produkten mit Standardhalbwertszeit (SHL). 

        Es zeigte sich, dass die viralen Komorbiditäten (Hepatitis C und HIV) als auch der orthopädische Gelenkstatus mit der Knochendichte korrelieren. Die physikalische Aktivität korreliert lediglich bei jungen Patienten (<25 Jahre alt) mit der Knochendichte.

        Ergebnisse – Blutuntersuchung 

        Die Blutuntersuchung ergab bei allen Schweregraden der Hämophilie einen Vitamin-D-Mangel: Insgesamt hatten 72% (184/255) der Patienten einen Vitamin-D-Spiegel < 12 ng/ml bzw. 30 nmol/l. Bei 42% (107/255) lag der Wert < 20 nmol/l (Tabelle 3 zeigte die Werte, stratifiziert nach Schweregrad der Hämophilie). Ein Vitamin-D-Spiegel < 30 nmol/l signalisiert eine mangelhafte Versorgung und ist assoziiert mit einem Risiko für Rachitis, Osteomalazie und Osteoporose. In Deutschland sind 30,8% der Männer von einem Vitamin-D-Mangel betroffen (<30 nmol/l).[3]

         

        Schwer
        (n=150)

        Mittelschwer
        (n=53)

        Mild
        (n=52)

        Total 
        (n=255)

        Vit. D Spiegel (< 30 nmol/l)

        72% (108)

        77% (41)

        75% (39)

        72% (184) 

        Vit. D Spiegel (< 20 nmol/l)

        38% (58)

        45% (24)

        48% (25)

        42% (107)

        Tabelle 3: Die Blutparameter, nach Schweregrad der Hämophilie. 

        Ergebnisse – Frakturrisiko

        Mit Blick auf den Trabecular Bone Score (TBS) – eine Untersuchung, die die optional bei erhöhtem Osteoporose- und Frakturrisiko eingesetzt werden kann – wurden keine signifikanten Unterschiede innerhalb der Schweregrade gefunden (p=0,492). So ist die Mikroarchitektur der Knochen scheinbar nicht betroffen. FRAX® – ein Diagnose-Tool der Universität Sheffield zur Bewertung des Frakturrisikos – ist dadurch um ein Delta von 1,6% nach TBS-Adjustierung verringert.  


        Empfehlungen für die Praxis

        Die Studienautoren empfehlen, ein Osteoporose-Screening in die Diagnostik bei Hämophilie-Patienten zu integrieren – nach Möglichkeit inklusive der Analyse der trabekulären Strukturen. Eine Untersuchung, die bereits im jungen Erwachsenenalter möglich ist. 

        Wegen der hohen Rate an Patienten mit Vitamin-D-Mangel sollte eine großzügige Vitamin-D-Gabe in Betracht gezogen werden.


        Vortrag von PD Dr. Andreas C. Strauß, Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Bonn, „Neue Erkenntnisse: Die weltweit größte Studie zu Hämophilie A und Osteoporose“, auf dem Bayer-Symposium, am 23. Februar im Rahmen der 67. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e.V. (GTH), 21.-24. Februar 2023 in Frankfurt (Hybrid).

        Literatur: 
        1. Gallacher SJ, Deighan C, Wallace AM, Cowan RA, Fraser WD, Fenner JA, Lowe GD, Boyle IT. Association of severe haemophilia A with osteoporosis: a densitometric and biochemical study. Q J Med. 1994 Mar;87(3):181-6. PMID: 8208906.

        2. Salari N, Darvishi N, Bartina Y, Larti M, Kiaei A, Hemmati M, Shohaimi S, Mohammadi M. Global prevalence of osteoporosis among the world older adults: a comprehensive systematic review and meta-analysis. J Orthop Surg Res. 2021 Nov 13;16(1):669. doi: 10.1186/s13018-021-02821-8. PMID: 34774085; PMCID: PMC8590304.

        3. Rabenberg M, Mensink Gert B.M. Journal of Health Monitoring. 2016 1(2) DOI 10.17886/RKI-GBE-2016-036 Robert Koch-Institut, Berlin.