Hemmkörper - was tun?

Wenn das Immunsystem sich gegen die Behandlung wehrt

Eine mögliche Komplikation in der Hämophilie-Behandlung mit Faktor-Medikamenten ist die Entwicklung von Abwehrstoffen (Antikörper) als Reaktion auf die Gabe von Faktor VIII oder Faktor IX. Obwohl die meisten Menschen mit Hämophilie auf Faktorpräparate gut ansprechen, kann es bei einem Teil der Patienten passieren, dass ihr Immunsystem so genannte Hemmkörper (Inhibitoren) gegen die Wirkstoffe bildet.

 

Sie sind nicht allein

Sollten bei Ihrem Kind Hemmkörper diagnostiziert werden, kann eine für den Patienten und die Familie belastende Therapie nötig werden. Suchen Sie sich in dieser Zeit möglichst viel Unterstützung. Ihre wichtigsten Ansprechpartner sind immer die Experten Ihres Hämophilie-Zentrums. Sie werden Ihr Kind und Sie bei einer solchen Therapie intensiv begleiten und betreuen.

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Im privaten Umfeld können Selbsthilfegruppen Sie stärken. Den gegenseitigen Erfahrungsaustausch empfinden viele Betroffener als sehr wertvoll. Die beiden größten Patientenorganisationen sind die Deutsche Hämophiliegesellschaft (DHG) und die Interessengemeinschaft Hämophiler (IGH). Dort können erfahren Sie auch, ob sich Gruppen in Ihrer Nähe treffen.

    Patienten mit Hämophilie A oder B werden heute überwiegend mit Medikamenten behandelt, die den Blutgerinnungsfaktor VIII bzw. IX ersetzen, die der Körper aufgrund eines Gendefekts nicht oder nur in unzureichender Menge bildet. Aus Gründen, die nicht vollständig bekannt sind, entwickeln manche Patienten – vor allem solche mit schwerer Hämophilie und bestimmten Gendefekten – Antikörper gegen den zugeführten Gerinnungsfaktor.

    Die Reaktion des Immunsystems kann man mit der bei einer Allergie vergleichen. Denn der Köper reagiert abwehrend auf eine ihn unbekannte Substanz, die er eigentlich gar nicht bekämpfen müsste. Weil die Antikörper die Wirkung des Faktorpräparats teilweise oder ganz aufheben und somit die Blutgerinnung hemmen, nennt man sie „Hemmkörper“ oder auch „Inhibitoren“ (aus dem Lateinischen inhibere = unterbinden).

    Hemmkörper können also bewirken, dass betroffene Patienten trotz der regelmäßigen Injektion von Faktor VIII oder Faktor IX wieder blutungsgefährdet sind. Dennoch: Es gibt heute wirksame Behandlungsverfahren für Patienten mit einem Hemmkörper.

    Warum manche Hämophilie-Patienten Hemmkörper bilden, andere aber nicht, ist nicht gänzlich geklärt. Es gibt aber bestimmte Faktoren, die das Risiko erhöhen.

    Ursache für die Hämophilieerkrankung Ihres Kindes ist eine Genveränderung (Mutation). Die Art dieser Mutation beeinflusst auch das Risiko für eine Entwicklung von Hemmkörpern. Da dieses Risiko erblich bedingt ist, lässt es sich nicht beeinflussen.

    Einfluss auf die Entstehung von Hemmkörpern haben aber auch Aspekte, auf die man – zumindest teilweise – einwirken kann. So gibt es zum Beispiel Hinweise auf ein erhöhtes Hemmkörper-Risiko, wenn der Faktor in hohen Dosen gegeben werden muss – z. B. aufgrund von Operationen.

    Natürlich lässt es sich nicht vermeiden, im Vorfeld einer notwendigen Operation die Faktorgabe zu erhöhen. Ihr Hämophilie-Zentrum berät Sie dazu individuell.

    Hemmkörper stellen eine ernst zu nehmende Komplikation in der Hämophilie-Behandlung dar. Jedoch entwickeln nur rund 20 bis 30 Prozent1 der von Hämophilie A betroffenen Patienten Hemmkörper, bei Hämophilie B sind es gerade nur 2 bis 4 Prozent. Dieses Risiko sinkt zudem erheblich nach den ersten 4–6 Monaten bzw. nach 50 Faktorgaben1. Das Wichtigste aber ist: Es gibt wirksame Behandlungsmethoden gegen Hemmkörper.

    Zeigt ihr Kind trotz regelmäßiger Faktorgabe nach anfänglichem Erfolg wieder eine verstärkte Blutungsneigung, sollten Sie Kontakt mit Ihrem Hämophilie-Zentrum aufnehmen. Dort kann mit Hilfe einer speziellen Untersuchungsmethode festgestellt werden, ob Hemmkörper vorliegen und wie hoch deren Konzentration im Blut ist. Wird nur ein geringes Maß an Hemmkörpern nachgewiesen, kann die Behandlung mit dem verabreichten Medikament meist fortgesetzt werden – eventuell mit einer veränderten Dosierung. Ist der Wert hoch, gibt es folgende Möglichkeiten:
     

    Gehemmte Faktoren umgehen

    Die Faktoren VIII und IX sind zwei von mehreren Faktoren, die im komplizierten Prozess der Blutgerinnung ineinandergreifen. Besteht ein Hemmkörper gegen einen Faktor, ist dieser Prozess unterbrochen und die Gerinnung gestört. So genannte „Bypass-Medikamente“ können Abhilfe schaffen. Wie ein Bypass im Herzen ein verschlossenes Blutgefäß überbrückt, so umgehen diese Medikamente die Faktor VIII- oder IX-Wirkung im Gerinnungssystem und ermöglichen dadurch die Blutgerinnung. Zurzeit gibt es zwei Bypass-Präparate in Deutschland, die je nach ärztlicher Entscheidung auch zusätzlich zu einem Faktorpräparat gegeben werden können.
     

    Das Immunsystem „erziehen“

    Mit der Methode, das Immunsystem dazu zu bringen, den zugeführten Faktor wieder zu tolerieren, werden seit längerer Zeit sehr gute Erfolge erzielt. Man nennt dieses Verfahren „Immuntoleranztherapie“ (ITT) oder „Immuntoleranz-Induktion“ (ITI). Dabei werden dem Patienten über einen längeren Zeitraum höhere bis sehr hohe Dosen des therapeutischen Faktors verabreicht2. Wird diese Therapie konsequent und ohne Unterbrechung durchgeführt, stehen ihre Erfolgschancen sehr gut. Betroffene können die Hemmkörperbildung dauerhaft überwinden und meist ein Leben lang problemlos mit Faktorersatzpräparaten behandelt werden.
     

    Das Immunsystem „überlisten“

    Seit 2018 gibt es in Deutschland zudem eine Therapie mit einem monoklonalen Antikörper, der die Funktion des Faktor VIII nachahmt, ohne einer zu sein. Das Immunsystem erkennt die Substanz deshalb nicht als „feindlich“ und wehrt sie nicht ab. Für Patienten mit Hemmkörperbildung kann dies eine gut geeignete Therapiemöglichkeit sein.
     

    Erste Anlaufstelle – Ihr Hämophilie-Zentrum
    Hier berät man Sie kompetent zur individuell besten Therapieform für Ihr Kind.

     

      1 Witmer C & Young G. Ther Adv Hematol 2013; 4: 59–72
      2 Querschnitts-Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten, 4. überarbeitete und aktualisierte Auflage 2014, Deutscher Ärzte-Verlag, ISBN 978-3-7691-3603-6