Blick über den Tellerrand

 

hemoTicker 2/23

Erworbene Hämophilie im Zusammenhang mit Corona-(Impfungen) 
 

Ein paar allgemeine Fakten zur erworbenen Hämophilie

  • Verursacht wird die erworbene Hämophilie A (AHA) durch Autoantikörper, die die Aktivität des Gerinnungsfaktors VIII neutralisieren und/oder dessen Abbau beschleunigen.[1,2]
  • Ihre Inzidenz liegt Schätzungen zufolge bei rund 1,5 Fällen pro Million/Jahre. 
  • Ältere Menschen nach dem 65. Lebensjahr sind signifikant häufiger betroffen,[3] während kein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern beobachtet wurde.[4,5]  
  • Bei Frauen zeigt sich eine mit einer Schwangerschaft assoziierte zweite niedrigere Inzidenzspitze zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.[6,7]
  • Als häufigste Symptome werden Blutungen berichtet, ungefähr jeder 10. Fall verläuft asymptomatisch.[5] 
  • Zu den wesentlichen Diagnosekriterien gehören eine verlängerte aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT), reduzierte FVIII-Plasmaspiegel und der Nachweis von Anti-FVIII Autoantikörpern.[8]

 

Die Beobachtung des Redaktionsteams

Der Eindruck des Redaktionsteams ist, dass die Anzahl der Patienten mit AHA seit der Covid-19-Pandemie bzw. den Impfungen zunimmt. Aus diesem Grund fragen wir unsere Leser:innen: Teilen Sie unsere Beobachtung, und wenn ja, wie gehen Sie mit der Situation um? 

  • Aus diesem Grund haben wir eine anonyme Umfrage gestartet, zu der wir Sie sehr herzlich einladen. 

Beachtenswert: Eine aktuelle „Signal Detection Analysis“ von Massimo Franchini et al. zeigte einen möglichen Zusammenhang zwischen der COVID-19-Impfung und dem Auftreten von AHA 

Die Studienautor:innen führten zunächst eine Disproportionalitätsanalyse in der Datenbank der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch, um zu prüfen, ob es ein Risikosignal für AHA in Verbindung mit COVID-19-Impfstoffen gibt. Im nächsten Schritt wurden diese Berichte mit dem Food and Drug Administration Vaccine Adverse Events Reporting System und der medizinischen Fachpublikationen zusammengeführt. Die WHO-Datenbank enthielt 146 Berichte über AHA. Die Auswertung ergab eine signifikante Assoziation zwischen AHA mit allen COVID-19-Impfstoffen (Information Component IC025: 1,1) und mit dem Impfstoff BNT162b2 (COMIRNATY, Biontech/Pfizer; IC025: 1,6). Nach Ausschluss von Duplikaten wurden 96 eindeutige Fälle von AHA überprüft, die im Anschluss an eine COVID-19-Impfung auftraten. 


Die Ergebnisse

  • Die mittlere Zeit bis zur Diagnose lag bei 18 Tagen.
  • In 40 % der Fälle wurde die AHA nach der zweiten Impfdosis dokumentiert.
  • Insgesamt konnte in 57 % der untersuchten Fälle eine Vorerkrankung mit Disposition zu AHA ausgeschlossen werden. 
  • Rund 22 % der Fälle traten bei Personen >65 Jahren auf.
  • Es gab keinen Fall im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft.
  • Rund 11 % der Personen mit AHA verstarben an dieser Erkrankung. 
  • Auch wenn die Autor:innen nicht ausschließen können, dass die unerwartete Häufigkeit der AHA-Diagnose durch einen Detektion-Bias erklärt werden kann, ist das Signal für eine COVID-19-Impfstoff-assoziierte AHA robust und verdient weitere Untersuchungen.


Überlegungen zum Wirkmechanismus 

Bezüglich des Wirkmechanismus wurden Sequenzen des SARS-CoV-2-Spike-Proteins identifiziert, die sich mit besonders immunogenen FVIII-Sequenzen überschneiden. Diese Sequenzen sind Teil der antigenen Komponente des Impfstoffs und könnten mit nicht vollständig gelöschten autoreaktiven T-Zellklonen interagieren, die spezifisch für endogenes FVIII sind – diese T-Zell-Klone wurden bei Personen mit AHA-Risiko identifiziert.[9] Sie können Reifung und Aktivierung von B-Zell-Klonen stimulieren, die für die Produktion von natürlichen Anti-FVIII-Antikörpern verantwortlich sind.[10] Dieser Mechanismus erscheint laut den Studienautor:innen plausibel, insbesondere dann, wenn der zeitliche Zusammenhang zwischen Immunisierung und AHA-Diagnose berücksichtigt wird.

Da auch bestimmte Grunderkrankungen (wie Autoimmun- und onkologische Erkrankungen) und Risikofaktoren (wie Schwangerschaft) mit AHA im Zusammenhang stehen, sollten diese jedoch beim Ausschluss anderer Ursachen berücksichtigt werden.


Zum Weiterlesen: 

Studie zu Franchini M, Cappello E, Valdiserra G, Bonaso M, Moretti U, Focosi D, Tuccori M. Investigating a Signal of Acquired Hemophilia Associated with COVID-19 Vaccination: A Systematic Case Review. Semin Thromb Hemost. 2023 Feb;49(1):15-26. doi: 10.1055/s-0042-1754389. Epub 2022 Sep 2. PMID: 36055265.

Weitere Literatur: 

  1. Franchini M, Vaglio S, Marano G, Mengoli C, Gentili S, Pupella S, Liumbruno GM. Acquired hemophilia A: a review of recent data and new therapeutic options. Hematology. 2017 Oct;22(9):514-520. doi: 10.1080/10245332.2017.1319115. Epub 2017 Apr 25. PMID: 28441921.

  2. Coppola A, Favaloro EJ, Tufano A, Di Minno MN, Cerbone AM, Franchini M. Acquired inhibitors of coagulation factors: part I-acquired hemophilia A. Semin Thromb Hemost. 2012 Jul;38(5):433-46. doi: 10.1055/s-0032-1315757. Epub 2012 Jun 27. PMID: 22740182.

  3. Franchini M, Marano G, Cruciani M, Mengoli C, Pati I, Masiello F, Veropalumbo E, Pupella S, Vaglio S, Liumbruno GM. Advances in managing rare acquired bleeding disorders. Expert Rev Hematol. 2020 Jun;13(6):599-606. doi: 10.1080/17474086.2020.1756259. Epub 2020 Apr 23. PMID: 32286895.

  4. Collins PW, Hirsch S, Baglin TP, Dolan G, Hanley J, Makris M, Keeling DM, Liesner R, Brown SA, Hay CR; UK Haemophilia Centre Doctors' Organisation. Acquired hemophilia A in the United Kingdom: a 2-year national surveillance study by the United Kingdom Haemophilia Centre Doctors' Organisation. Blood. 2007 Mar 1;109(5):1870-7. doi: 10.1182/blood-2006-06-029850. Epub 2006 Oct 17. PMID: 17047148.

  5. Knoebl P, Marco P, Baudo F, Collins P, Huth-Kühne A, Nemes L, Pellegrini F, Tengborn L, Lévesque H; EACH2 Registry Contributors. Demographic and clinical data in acquired hemophilia A: results from the European Acquired Haemophilia Registry (EACH2). J Thromb Haemost. 2012 Apr;10(4):622-31. doi: 10.1111/j.1538-7836.2012.04654.x. PMID: 22321904.

  6. Franchini M. Postpartum acquired factor VIII inhibitors. Am J Hematol. 2006 Oct;81(10):768-73. doi: 10.1002/ajh.20702. PMID: 16868941.

  7. Tengborn L, Baudo F, Huth-Kühne A, Knoebl P, Lévesque H, Marco P, Pellegrini F, Nemes L, Collins P; EACH2 registry contributors. Pregnancy-associated acquired haemophilia A: results from the European Acquired Haemophilia (EACH2) registry. BJOG. 2012 Nov;119(12):1529-37. doi: 10.1111/j.1471-0528.2012.03469.x. Epub 2012 Aug 20. PMID: 22901076.

  8. Kruse-Jarres R, Kempton CL, Baudo F, Collins PW, Knoebl P, Leissinger CA, Tiede A, Kessler CM. Acquired hemophilia A: Updated review of evidence and treatment guidance. Am J Hematol. 2017 Jul;92(7):695-705. doi: 10.1002/ajh.24777. Epub 2017 Jun 5. PMID: 28470674.

  9. Meunier S, Menier C, Marcon E, Lacroix-Desmazes S, Maillère B. CD4 T cells specific for factor VIII are present at high frequency in healthy donors and comprise naïve and memory cells. Blood Adv. 2017 Sep 25;1(21):1842-1847. doi: 10.1182/bloodadvances.2017008706. PMID: 29296830; PMCID: PMC5728100.

  10. Algiman M, Dietrich G, Nydegger UE, Boieldieu D, Sultan Y, Kazatchkine MD. Natural antibodies to factor VIII (anti-hemophilic factor) in healthy individuals. Proc Natl Acad Sci U S A. 1992 May 1;89(9):3795-9. doi: 10.1073/pnas.89.9.3795. PMID: 1570298; PMCID: PMC525577.