Blick über den Tellerrand

 

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Erworbene Hämophilie

Ein paar Fakten

  • AHA (erworbene Hämophilie A) ist eine seltene Erkrankung im Erwachsenenalter mit einem ähnlichen Krankheitsbild wie die vererbte Hämophilie A und einer Inzidenz von 1 pro 1 Million pro Jahr. Betroffen sind primär ältere Menschen.
  • Auch wenn der pathophysiologische Mechanismus der AHA noch nicht vollständig geklärt ist, scheint die Produktion von zirkulierenden Autoantikörpern, die den Faktor VIII hemmen, daran beteiligt zu sein.
  • In etwa der Hälfte der Fälle ist die AHA idiopathisch, kann aber zu einem signifikanten Anteil mit Neoplasien (11,8%), Autoimmunerkrankungen (13,4%), Infektionen (3,8%), und Schwangerschaft (8,4 %) assoziiert sein.
  • Die wichtigste klinische Manifestation der AHA ist die Blutung, die bei mehr als 90 % der Patienten zu Beginn der Erkrankung auftritt; die Blutung ist spontan und in 70 % der Fälle schwer. Als häufigste Blutungsstelle wurden das subkutane Gewebe, gefolgt von gastrointestinalen Blutungen und muskulären Hämatomen berichtet; Blutungen des Urogenitaltrakts und retroperitoneale sowie intrakranielle Blutungen sind eher selten.
  • Die AHA gilt als ernste Erkrankung, nicht nur wegen der Inzidenz von schweren Blutungen, sondern auch aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate, die bei Patienten über 65 Jahren auf über 10 % geschätzt wird.

Die Kasuistik – Ein 84-jähriger Patient mit AHA, der verstärkte Blutungen im Muskel- und Lebergewebe aufwies

Der 84-jährige Patient mit autoimmuner hämolytischer Anämie (AHA) wurde wegen Akrozyanose und Schmerzen in der rechten oberen Extremität in die Notaufnahme des St. Andrea-Krankenhauses in Rom/Italien eingeliefert. Er berichtete über Dyspnoe in der Woche zuvor und verneinte ein traumatisches Ereignis an der betroffenen Extremität. Die Vorgeschichte ergab eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), ein Lungenadenokarzinom. Zudem war der Blutdruck erhöht und es wurde ein vorangegangenes akutes Koronarsyndrom berichtet. Die Therapie zu Hause umfasste Ramipril, Cardioaspirin, Bisoprolol, Spironolacton, Pantoprazol und Furosemid. Zwei Wochen vor der Einlieferung hatte der Patient Clopidogrel abgesetzt, da sich an der betroffenen Extremität ein großes Hämatom gebildet hatte.

  • Der Patient war wach und orientiert, mit blasser Haut, mäßiger hämodynamischer Kompensation und erhöhtem Volumen und Ödemen in der rechten oberen Extremität mit schwachem, aber vorhandenem Brachial- und Radialispuls.
  • Die Vitalparameter zeigten Blutdruck: 100/60 mmHg, Herzfrequenz: 90 bpm und Sauerstoffsättigung: 99 %.
  • Die hämatochemischen Tests dokumentierten eine normozytäre und eine normochrome Anämie, Hämoglobin (Hb)-Wert: 7,2 g/dl, rote Blutkörperchen: 2.500.000/μl, Blutplättchen: 263.000/μl, und weiße Blutkörperchen: 7.090/μl.
  • Die Leber- und Nierenfunktionstests waren im Normalbereich. Die Gerinnungstests ergaben folgende Werte: PT (Prothrombinzeit): 12,10 Sekunden, INR (International Normalized Ratio): 1,08, aPTT (aktivierte partielle Thromboplastinzeit): 70 Sekunden, D-Dimer: 2.856 ng/ml.
  • Der Patient erhielt eine Transfusion (1U konzentrierter roter Blutkörperchen).

Ein Angio-CT des Brustkorbs und der oberen Gliedmaßen dokumentierte die Blutansammlung und -ausbreitung im Bizepsmuskel bzw. in der Leber. Trotz Arteriographie der oberen Gliedmaßen und Embolisation zeigte er schwankende Hämoglobin- und Gerinnungswerte. Danach wurde noch einmal eine Transfusion verabreicht, der Hb-Wert blieb niedrig (7,1 g/dl) – normale Leber- und Nierenfunktion, normale Entzündungsindexe, PT: 12,08 Sekunden (INR 1,07) und aPTT: 2,51 (VN 0,8-1,2)/79 Sekunden. Der Patient wurde in den vorangegangenen Monaten viermal wegen akuter Anämie in verschiedene Krankenhäuser eingeliefert, ohne dass ein Trauma erwähnt worden wäre. Er erhielt eine weitere Transfusion und ein gründlicher Gerinnungstest ergab letztlich einen isolierten Faktor-VIII-Mangel (0,7%, Referenzbereich 50-150). Die aPTT lag bei 74 Sekunden, D-Dimer bei 5.498 ng/ml. Der LAC-Test (Lupus Anticoagulant Test) war negativ, und ein Mischtest wurde nicht durchgeführt. Der Patient entschloss sich, gegen ärztlichen Rat, für die häusliche Palliativpflege.


Gut zu wissen – Therapieansätze

  • Die Diagnose der AHA beginnt mit dem Verdacht auf eine verlängerte aPTT, bei Fehlen einer bekannten Koagulopathie bzw. einer Therapie mit Heparin i. v. sowie einem negativen LAC-Test, bestätigt durch die Messung der Gerinnungsfaktoren, mit dem Nachweis eines FVIII-Mangels.
  • Die Therapie kann darauf abzielen, den Immunreiz, der zur Bildung von Anti-FVIII-Antikörpern führt, zu unterdrücken. Beispielsweise mit Kortikosteroiden in Verbindung mit Cyclo-Phosphamid oder laut neueren Studien mit monoklonalen Autoantikörpern wie Rituximab (gegen CD20).
  • Ein weiterer interessanter therapeutischer Ansatz, der als hämostatisch bezeichnet werden kann und der 70 % der AHA-Patienten betrifft, ist die Gabe von FVIIa oder von aktiviertem Prothrombinkomplex-Konzentrat oder von rekombinantem Faktor VIII.

„Dieser erst kürzlich erschienene Artikel hat mich als Hämato-Onkologen besonders neugierig gemacht. Dies auch, weil wir doch zunehmend mit diesem seltenen Krankheitsbild der erworbenen Hämophilie A konfrontiert werden. Dies ist zum einen sicherlich den Covid-19-Infektionen zuzuschreiben, bei denen wir unter der Pandemie zuletzt doch gehäuft Patienten mit erworbener Hemmkörper-Hämophilie gesehen haben. Der Hämatologe in mir ist mit Autoimmunantikörpern vertraut (Autoimmunthrombopenie, Autoimmunhämolysen). Aber durch die Immuntherapien, die den onkologischen Werkzeugkasten enorm erweitert und damit das Überleben onkologischer Patienten erheblich verbessert, haben wir es auch hier zunehmend mit autoimmunen Überstimulationssyndromen zu tun, die wir früher viel seltener bis fast gar nicht gesehen haben. Eine erworbene Hämophilie zu behandeln, ist kompliziert genug, sie erst einmal zu erkennen, ist die große Kunst. An die verlängerte aPTT und den fehlenden Faktor VIII werden die wenigsten Kollegen/innen in peripheren Krankenhäusern denken. Hier gibt es noch einiges an Aufklärungsarbeit zu tun.“

Dr. Kai Severin

Literatur:
Dulcetti A, Bruscia C, Malena DM, Benvenuto R, Martocchia A, Sentimetale A, Tafaro L, March MR, Martelletti P. Acquired Hemophilia in an Elderly Patient with Non-Small Cell Lung Cancer: a Case Report. SN Compr Clin Med. 2023;5(1):7. doi: 10.1007/s42399-022-01330-x. Epub 2022 Nov 23. PMID: 36466121; PMCID: PMC9684743.