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hemoTICKER 1/2022

 

 

 

    Ein Beitrag von Dr. Georg Goldmann (Bonn)

    Seltene Erkrankungen erfordern eine interdisziplinäre Kooperation von spezialisierten Ärzten mit besonderer Expertise und Behandlungszentren, die auch aufgrund der räumlichen Nähe eine optimale Zusammenarbeit gewährleisten können. Diese besondere Behandlungsoption für Patienten mit einer schweren Blutungsneigung wird nur in wenigen Kliniken bzw. ambulanten Versorgungszentren angeboten. Mit modernen oralchirurgischen Operationstechniken und individualisiertem hämostaseologischen Therapiemanagement kann auch bei Patienten mit einer Hämophilie eine sichere zahnärztliche Versorgung mit nur sehr geringem Blutungsrisiko durchgeführt werden.

    In Deutschland sind ca. 6.000 Patienten von einer Hämophilie A oder B betroffen. Auch diese Patienten benötigen nicht selten eine zahnmedizinische oder auch eine fachärztliche Behandlung durch einen Mediziner für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Jede invasive Behandlung im Mundraum eines Hämophilie-Patienten ist mit einem ausgeprägten Blutungsrisiko verbunden, das für den Chirurgen einen nicht kalkulierbaren Operationsverlauf und oftmals – insbesondere im niedergelassenen Bereich – eine besondere Herausforderung bedeuten kann. Bei Hämophilie-Patienten sollte jeder oralchirurgische Eingriff von einem speziell geschulten Facharzt (Hämostaseologen) begleitet werden.

    Da zahnärztliche und oralchirurgische Eingriffe mit einem hohen Risiko für starke Blutungen einhergehen, wurden bis in die 1970er Jahre bei hämophilen Patienten nur lebensnotwendige Operationen durchgeführt (Hardisty und Ingram 1965) und eine Behandlung möglichst vermieden. Ein Eingriff beim Zahnarzt war für Patienten mit Blutgerinnungsstörungen noch bis in die jüngere Vergangenheit mit großen Ängsten vor unkontrollierbaren und bisweilen lebensbedrohlichen Blutungen (Naveen et al. 2010) verbunden. Da hierdurch fast alle zahnärztlichen Behandlungen auf ein Minimum reduziert wurden, war der Zahn- und Parodontalstatus der Hämophilen seinerzeit entsprechend schlecht.

    Aufgrund der verbesserten Versorgung von Hämophilie-Patienten mit Faktorkonzentraten und gerinnungsfördernden Substanzen konnte ab den 1980er Jahren eine prophylaktische und therapeutische Versorgung gewährleistet werden und somit verbesserte sich auch der Zahnstatus von vielen Hämophilie-Patienten. Dennoch ist die zahnärztliche Versorgung Hämophiler bis heute nicht optimal. Trotz aktueller Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften zur Behandlung hämophiler Patienten (Brewer und Correa 2006), welche die enge Zusammenarbeit mit einem hämostaseologischen Zentrum, eine optimale und fachgerechte Einstellung mit Faktorkonzentraten und die Behandlung mit lokal blutstillenden Medikamenten empfehlen, wird die Behandlung in Kieferchirurgischen Zentren oder beim niedergelassenen Zahnarzt häufig nicht Leitlinien-konform durchgeführt.

    Optimiert werden kann die Behandlung durch eine vertrauensvolle und enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von Oralchirurgen mit einem hämostaseologischen Zentrum. Nur der ausgebildete Spezialist kann den Patienten individuell und fachkompetent mit Faktorkonzentraten und Antifibrinolytika versorgen und so einen sicheren Operationsverlauf gewährleisten.

    Noch im letzten Jahrhundert – vor der Entwicklung der lebensrettenden Faktorkonzentrate – gab es für diese Patienten keine Therapieoption. Eine schwere Blutung eines Hämophilie-Patienten kann nur durch Gabe von speziellen Gerinnungsfaktoren kontrolliert werden. Ist diese Therapie nicht rechtzeitig erfolgt, wird der Patient schlimmstenfalls durch Verbluten versterben. Zur Vermeidung dieser folgenschweren Komplikationen verordnet der behandelnde Hämatologe sog. „Gerinnungsfaktoren“.

    Nach den zuerst verabreichten plasmatischen Präparaten stehen heute auch gut verträgliche rekombinante Faktorkonzentrate für die Behandlung betroffener Patienten zur Verfügung. Heutzutage werden neben den Faktor-Standardpräparaten und den Non-Replacement-Therapien (NRT) zunehmend in der Wirkungsdauer verlängerte, sogenannte EHL-Faktorprodukte (Extended-Half-Life) angewendet. Durch den Einsatz von diesen modernen Faktorprodukten mit verlängerter Halbwertszeit und damit längerer Verweildauer des applizierten Faktors im Blut kann dank höherer Faktor-Through-Level (Faktor-Talspiegel) noch effektiver Blutungen vorgebeugt werden. Bei einem Teil der Patienten kann zudem die wöchentliche Injektionsfrequenz und/oder die Injektionsfrequenz nach operativen Eingriffen reduziert werden.

    Inzwischen gibt es hierzu einige wissenschaftliche Publikationen über größere Patientenkohorten im orthopädischen, urologischen, allgemein- und viszeralchirurgischen, aber auch vor allem im oralchirurgischen Bereich, die zeigen, dass bei enger interdisziplinärer Zusammenarbeit von Hämostaseologen und Operateur Hämophilie-Patienten eine mit gesunden Patienten vergleichbare Komplikationsrate bei operativen Eingriffen ohne erhöhte Blutungsrate aufweisen.

    Für die zahnärztliche Behandlung von Hämophiliepatienten stehen unterschiedliche Therapieoptionen zur Verfügung. Wichtig ist bei jeder Intervention eine individuell angepasste Behandlungsstrategie durch ein erfahrenes interdisziplinäres Team aus Zahnarzt und Hämostaselogen. 

     

    Fragen aus Patientensicht und deren Antworten, die Sie als Hämostaseolog*in mit dem Patienten diskutieren können

    Warum sollte ich in einer speziellen Klinik für Zahnheilkunde oder MKG-Chirurgie* behandelt werden?

    • Aufgrund der Komplexität und Seltenheit der Erkrankung sollten Sie sich gerade bei anstehenden größeren kieferchirurgischen Eingriffen in einem Hämophiliezentrum mit angeschlossener Zahnheilkunde bzw. MKG-Chirurgie vorstellen. Hier ist die enge Zusammenarbeit von Hämostaseolog*innen und Zahnärzt*innen oder MKG-Chirurg*innen gewährleistet. Zudem werden hier oft die modernsten operativen Techniken angeboten, die vor allem deutlich reduzierte Blutungsrisiken bieten.
    • Auch bei Ihnen als Hämophiliepatient können operative zahnärztliche und kieferchirurgische Eingriffe heutzutage durch eine spezialisierte hämostaseologische und kieferchirurgische Betreuung sicher durchgeführt werden.

    *Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie

     

    Sollte ich in eine auf Gerinnungsstörungen spezialisierte Praxis gehen?

    • Zahnärztliche und zahnärztlich-chirurgische Behandlungsverfahren zählen zu den häufigsten Eingriffen auch bei hämophilen Patienten. Selbst bei kleineren Eingriffen kann es bei solchen Behandlungen durch die Störungen des Blutgerinnungssystems zu einer erhöhten Blutungsneigung kommen. Im Allgemeinen kennen sich Zahnärzt*innen in der Behandlung von Menschen, die eine Gerinnungsstörung haben, insbesondere durch den Umgang mit Patienten, die Blutverdünner nehmen, gut aus.
    • Um Komplikationen vorzubeugen, sollten sich aber vor einer invasiven Maßnahme, auch wenn es sich z.B. nur um eine Zahnreinigung handelt, die behandelnden Ärzt*innen abteilungsübergreifend austauschen. Damit kann von Anfang an mehr Sicherheit erzielt werden. Vorbeugen ist besser als ... Durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen in der Zahnarztpraxis können spätere Schäden an den Zähnen vermieden werden.

     

    Wichtig: Auch bei Störungen der Blutgerinnung sind Blutungen im Mundbereich nicht „normal“, sondern sollten immer direkt abgeklärt werden!

     

    Was geschieht bei einem Eingriff?

    • Entscheidungen über den Einsatz von gerinnungsunterstützenden Medikamenten (z.B. Faktorpräparate, DDAVP, Tranexamsäure, spezielle blutstillende Watte, Nahtmaterial) in Abhängigkeit vom Schweregrad der Gerinnungsstörung und der Art der vorgesehenen Behandlung
    • Nach ambulantem Eingriff gutes Monitoring der Gerinnungssituation durch den*die Behandler*in und erst Entlassung bei kompletter Blutstillung
    • Bei größeren Eingriffen besonders bei unerfahrenen Patienten ist ein überwachter stationärer Aufenthalt vorzuziehen
    • Gegebenenfalls Therapie mit Antibiotika nach schwierigen Extraktionen oder beim Vorliegen von akuten Infektionen oder weiteren Grunderkrankungen (künstliche Gelenke, Probleme am Herzen, chronische Infektionserkrankungen …). Nach operativen Eingriffen sind körperliche Anstrengung, Nikotinabusus und Alkoholgenuss kontraindiziert. Wenden Sie sich bei Problemen immer sofort an Ihre*n Zahnarzt*ärztin/MKG-Chirurg*in bzw. an Ihre*n Hämophiliebehandler*in.
       

    Wichtig: Sprechen Sie vor dem Zahnarzt-Besuch immer mit Ihrem*r Hämophiliebehandler*in, da in Abhängigkeit der Untersuchungsmethode eine Anhebung des Gerinnungspotentials (Faktorgaben, ggf. DDAVP) erforderlich sein kann.  

     

    Tipps von Dr. Sonja Alesci (Bad Homburg)

    Bei der Zusammenarbeit mit dem Zahnarzt gibt es verschiedene Szenarien:

     

    Optimales Setting
    Die Patienten stellen sich circa 2 Wochen vor dem Eingriff vor. So können Labor-, Substitutionsplan-Faktor und ggf. Tranexamsäure verschrieben werden. Dabei sollten die Patienten auch auf die Einnahme von Schmerzmitteln hingewiesen werden. Bei Patienten, die sich nicht selbst spritzen, kann entweder eine ambulante Gabe erfolgen oder ein Homecare-Service organisiert werden.

     

    Patienten stellen sich kurzfristig vor

    • Ablauf erfolgt wie oben beschrieben.

     

    Herausforderung: Patienten mit einer milden Hämophilie

    • Die Situation dieser Patienten ist schwierig, da die Patienten nachbluten. Hier gilt es, eine Substitution und Laborkontrolle zu organisieren.

     

    Wichtig: Der Patient sollte einen Notfallausweis besitzen. Zudem ist es günstig, wenn die Operation möglichst zu Wochenanfang durchgeführt wird, da der Faktor vorhanden ist.  

     

    Zum Download: Checkliste für Ambulante Operationen – Information für Operateur und Patient

      MedShr

      MedShr ist eine von Ärzten entwickelte, Industrie-unabhängige Plattform. Diese Plattform bietet einen einfachen Weg für Mediziner, klinische Fälle und medizinische Bilder zu entdecken, zu diskutieren und zu teilen. Aktuell sind bereits eine Million Mitglieder weltweit dort registriert: verifizierte Ärzte, medizinische Fachkräfte und Medizinstudenten, die in einem privaten, professionellen Netzwerk Wissen austauschen und voneinander lernen.

      Von EKGs, Scans und Röntgenbildern bis hin zu Patientenfotos und -videos hilft MedShr, relevante medizinische Fälle zu finden und mit Kollegen zu besprechen, nach Fachgebiet und in allen Klassenstufen. MedShr ist ein verifiziertes, privates Netzwerk und verfügt über ein einzigartiges In-App-System zur Einholung der Patienteneinwilligung. 

      Medizinstudenten und Ärzte aller Ebenen können sich MedShr anschließen, um ihr Wissen voranzutreiben und sich mit Kollegen von ihrer Universität, ihrem Arbeitsplatz und auf der ganzen Welt zu vernetzen. Verbinden und folgen Sie Spezialisten auf Ihrem Gebiet, um über die neuesten Fälle und Behandlungen auf dem Laufenden zu bleiben. MedShr ist ein privates, professionelles Netzwerk, das Ihnen die vollständige Kontrolle über die Privatsphäre Ihrer Fälle gibt – Sie können sie mit der breiteren MedShr-Community oder nur einem einzelnen Kollegen teilen. Alle Mitglieder werden als Ärzte, medizinisches Fachpersonal und Medizinstudenten verifiziert, bevor sie Zugang zur Plattform erhalten.

      Treten Sie Gruppen bei, um von anderen zu lernen, Ihre Ergebnisse zu teilen oder einfach nur komplexe und interessante klinische Fälle zu diskutieren – jederzeit vom Schreibtisch aus. Erstellen Sie einen Fall, holen Sie die Zustimmung des Patienten ein und starten Sie eine Diskussion – alles von Ihrem Handy aus.

      Interessant für Hämostaseologen – es gibt für dieses Berufsfeld eine eigene Gruppe:
      >Hier finden Sie eine Präsentation von MedShr dazu.

       

      Weitere Informationen zu MedShr, die Anmeldung und Links zum App Store und Google Play finden Sie hier.

        Bayer hat zum zehnten Mal den PHILOS-Förderpreis vergeben und vier Hämophilie-Projekte damit ausgezeichnet, die ein Preisgeld in Höhe von je 5.000 Euro erhalten.

        Die Interessengemeinschaft Hämophiler (IGH e.V.) holt zwei Preise: in der Kategorie „Austausch & Networking“ für die seit zehn Jahren etablierten „Begegnungswochenenden für Familien“ in Sachsen-Anhalt sowie in der Kategorie „Aufklärung & Empowerment“ für ihre Projektidee „Hämophilie-Buddy“. Der Allgemeine Behindertenverband Land Brandenburg (ABB e.V.) gewinnt mit den elternfreien Bewegungskursen für Kinder und Jugendliche (ein Angebot, das 2021 erstmals im Rahmen der integrativen Erlebnisfreizeit am Werbellinsee erprobt wurde) in der Kategorie „Sport & Bewegung“.

        Die Konzeptidee des Universitätsklinikums Gießen/Marburg (UKGM) in Kooperation mit dem Gießener KroKi-Verein überzeugt in der Kategorie „Integration & Inklusion“ mit der Initiative „Psychosoziale Unterstützung für Hämophile-Patienten und Angehörige“.

        Die Gewinner*innen wurden von der PHILOS-Jury ausgewählt, zu der neben klinisch tätigen Hämophilie-Spezialistinnen (Dr. K. Holstein und S. Aumann) auch zwei Vertreter von Patientenorganisationen (G. Menzel und T. Becker) und eine Fachjournalistin (Dr. E. Switzer) gehören.

        Ein neuer Förderschwerpunkt zeichnet das PHILOS-Programm zukünftig aus: Mit dem PHILOS soll noch stärker die Unterstützung der Projektorganisatoren ins Visier genommen werden.

        Wegbegleitung für Wegbegleiter-Projekte: „PHILOS-Buddies“

        Experten aus verschiedenen Bereichen stehen den Ehrenamtlichen als „PHILOS-Buddies“ bei der Planung und Realisation ihrer Projektideen beratend zur Seite.

        Ausführliche Informationen zum PHILOS und den Preisträgern gibt es auch hier.

          Alt tag

          Am 29. Februar nahmen über 50 Hämostaseologie-Assistent*innen am virtuellen Zertifikatslehrgang der Hämostaseologie-Assistenz teil.

          In dessen Rahmen stellten Jessica Bridde und Dr. Georg Goldmann vom Bonner Hämophiliezentrum das Hämophilie-Pharmakokinetik-Tool WAPPS-HEMO und die App myWAPPS in einem von Bayer gesponserten Workshop vor.

          Nur 10 Teilnehmer*innen kennen das bzw. arbeiten mit diesem Tool, das die individuelle Prophylaxe in der Hämophilie A ideal unterstützt und Möglichkeiten der Therapie-Optimierung bietet.

          Jessica Bridde als Hämostaseologie-Assistentin übernahm die Eingabe der (administrativen) Patientendaten sowie der gemessenen Plasma-FVIII-Konzentrationen in Abhängigkeit von der Zeit und demonstrierte dies live im Workshop.

          Dr. Georg Goldmann präsentierte an ausgewählten Beispielen, wie er die generierte individuelle PK-Kurve des Patienten im Gespräch mit dem Patienten nutzt und die Therapie durch Anpassungen in Dosis und/oder Frequenz optimiert. Er zeigte auch die Möglichkeiten des myWAPPS-Dashboards und der Patienten-App myWAPPS.

          Auch die Fragen der Teilnehmer*innen wurden durch die beiden gerne beantwortet.

          Bei Interesse werden solche Veranstaltungen wiederholt oder vertieft.

          WAPPS-HEMO ist erstaunlich einfach, und durch die Zusammenarbeit von Arzt und Nurse stehen Aufwand und Nutzen der Anwendung in einem guten Verhältnis.