Neues aus Leverkusen


hemoTICKER 1/23

    Bei der HEM-POWR (NCT03932201) handelt es sich um eine laufende, multinationale, multizentrische, nicht-interventionelle, prospektive Postmarketing-Kohortenstudie, die Wirksamkeit und Sicherheit von Damoctocog alfa pegol (BAY 94-9027/Jivi®)[1] in der „Real-World“ beurteilt. An der Studie sollen Patienten mit Hämophilie A teilnehmen, die Jivi® als On-Demand, Prophylaxe oder intermittierende Prophylaxe (gemäß lokaler Zulassung) erhalten und 36 Monate lang beobachtet werden. Primäre Endpunkte umfassen die Gesamtzahl der Blutungsereignisse und die jährliche Blutungsrate (ABR). Zu den sekundären Endpunkten gehören Langzeitsicherheit, Gelenkgesundheit, Pharmakokinetik, Patient-Reported-Outcomes und perioperative Hämostase. Ferner werden auch die Gründe für die Umstellung auf Damoctocog alfa pegol, die Wahl des Behandlungsschemas und der Dosierung erfasst.

    Literatur:
    Sanabria M, Álvarez Román MT, Castaman G, Janbain M, Matsushita T, Meijer K, Oldenburg J, Friedl S, Reding MT.
    Design of the HEM-POWR study: a prospective, observational study of real-world treatment with damoctocog alfa pegol in patients with haemophilia A. BMJ Open. 2021 Sep 2;11(9):e044997. doi: 10.1136/bmjopen-2020-044997. PMID: 34475142; PMCID: PMC8413870.

    [1]Bei Damoctocog alfa pegol handelt es um ein PEGyliertes rekombinantes Faktor-VIII (rVIII)-Produkt mit verlängerter Halbwertszeit (Extended-Half-Life, EHL) für vorbehandelte Patienten mit Hämophilie A im Alter von ≥12 Jahren – und zeichnet sich durch flexible Prophylaxe-Regimes aus (45-60 IE/kg alle 5 Tage, in Abhängigkeit von den klinischen Merkmalen des Patienten auch 60 IE/kg alle 7 Tage oder 30-40 IE/kg zweimal wöchentlich).

    HEM-POWR: Aktuelle Ergebnisse, vorgestellt auf der GTH-Tagung

    Die Ergebnisse einer aktualisierten Interims-Subgruppenanalyse von zuvor behandelten Patienten mit Hämophilie A in Deutschland der HEM-POWR bestätigen: Jivi® zeigt eine günstige Wirksamkeit und Sicherheit bei milder, mittelschwerer oder schwerer Hämophilie A im Real-World-Setting. 

    Eingeschlossen in die Subgruppenanalyse wurden zuvor behandelte Patienten mit Hämophilie A ≥ 12 Jahren aus Studienzentren in Deutschland, die Jivi® entweder als Prophylaxe oder On-Demand erhielten. Zum Data-cut-off (17. August 2022) wurden 61 Patienten in die Sicherheitsanalyse (SAF: Patienten mit informierter Einwilligung, die ≥1 Studiendosis Jivi® während des Beobachtungszeitraums erhielten) eingeschlossen. Erwartungsgemäß wies ein Großteil der Patienten (50/61, 82,0 %) eine schwere Hämophilie A auf, aber es wurden auch 10 (16,4 %) mit mittelschwerer und einer (1,6 %) mit einer milden Verlaufsform beobachtet. 50/61 (82,0 %) waren ≥18 bis <65 und 6/61 (9,8 %) ≥12 bis <18 Jahre alt. In der SAF lag die mediane (Q1, Q3) Beobachtungszeit bei 262,0 (6,0, 406,0) Tagen. Mit 58/61(95,1 %) hatten die meisten Patienten bereits eine vorherige Therapie mit Jivi® erhalten, davon 52/57 (91,2 %; 1 Patient fehlte) als Prophylaxe. Der Median (Q1, Q3) der zu Studienbeginn verordneten Jivi®-Dosis lag bei 34,9 (26,3, 44,0) IE/kg. Mit Blick auf die Sicherheit wurden behandlungsbedingte unerwünschte Ereignisse bei 14/61 Patienten (23,0 %) beobachtet, davon war jedoch kein einziges mit Damoctocog alfa pegol assoziiert. Inhibitorentwicklung und Todesfälle gab es keine.

    Die vollständige Analyse FAS nahm Patienten (n=30) auf, die alle Einschlusskriterien erfüllten, eine erste dokumentierte Dosis von Damoctocog alfa pegol im Rahmen der Studie und bereits ≥1 dokumentierte Injektion während des Beobachtungszeitraums erhalten hatten. Ein Großteil hatte auch hier eine schwere Verlaufsform (27/30, 90,0 %). Die Ergebnisse zur Wirksamkeit zeigten: Median (Q1, Q3) und Mittelwert (SD) der Gesamt-ABR betrugen 0,0 (0,0, 1,1); 1,2 (2,8) während des Beobachtungszeitraums. Die Gesamt-ABR verringerte sich, entsprechend um 0,0 (-2,0, 0,0); 1,3 (3,0), verglichen mit dem Zeitraum (bis zu 12 Monate) vor Beginn der Jivi®-Therapie. Während des Beobachtungszeitraums hatten 22/30 Patienten (73,3 %) keine Blutungen, 26/30 (86,7 %) berichteten keine spontanen Blutungen und bei 24/30 (80,0 %) traten keine Gelenkblutungen auf. Die Patienten erhielten durchschnittlich (SD) 1,9 (0,9) Injektionen, um Blutungsereignisse zu kontrollieren – dabei wurde jedes zweite Ereignis mit einer einmaligen Injektion erfolgreich behandelt (48,4 %).

    Literatur:  

    J. Oldenburg, S. Wenning, K. Holstein, M. von Depka Prondzinski, J. Filip, W. Miesbach, K. Severin, H. Eichler, S. Halimeh. PW-08-06 HEM-POWR study: Subgroup analysis evaluating the real-world effectiveness and safety of damoctocog alfa pegol in previously treated patients with haemophilia A in Germany (#71). 67. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e.V. (GTH), 21.-24. Februar 2023 in Frankfurt (Hybrid). Poster Session POS-02; 23. Februar 2023.   
     

    Wie weitere Ergebnisse zur Sicherheit aus der aktualisierten Interimsanalyse der HEM-POWR zeigt Jivi® in der Praxis ein günstiges Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil bei Patienten mit milder, mittelschwerer oder schwerer Hämophilie A.

    Von den zum Zeitpunkt des Cut-offs (17. August 2022) 270 in die HEM-POWR eingeschlossenen Patienten mit Hämophilie A, wurden 268 (99,3 %) in die Sicherheitsanalyse (SAF) aufgenommen. 2 wurden nachträglich aus der SAF ausgeschlossen, da sie während des Beobachtungszeitraums (Mittelwert [SD] 264,7 [237,9] Tage) nicht die erforderliche ≥1 Dosis Damoctocog alfa pegol erhielten. Patienten aus Deutschland und Japan machten einen Großteil der Studienpopulation aus (61/268; 22,8% bzw. 52/268; 19,4%). 221/268 hatten eine schwere Hämophilie A (82,5 %). 224 (83,6 %) Patienten waren ≥18 bis <65 Jahre alt, 28 (10,5%) <18 Jahre sowie 15 (5,6%) ≥65 Jahre.  Ein Großteil der Patienten (225/268, 84,0 %) hatte innerhalb von 12 Monaten vor Studieneinschluss bereits eine Therapie mit Jivi® erhalten. Das häufigste Prophylaxe-Regime war eine Injektion alle 3-4 Tage, sowohl vor Einschluss in die Studie (115/210, 54,8%) als auch während des Beobachtungszeitraums (130/268, 50,4%). Insgesamt 110/268 Patienten (41,0 %) berichteten Komorbiditäten [am häufigsten über Bluthochdruck (41/268, 15,3 %), chronische Schmerzen (41/268, 15,3 %) und chronische Arthropathie (35/268, 13,1 %)].

    Bei 59/268 Patienten (22,0 %) wurden behandlungsbedingte unerwünschte Ereignisse (TEAEs) dokumentiert, bei 19/268 (7,1 %) waren die TEAEs schwerwiegend. 2/268 Patienten (0,8%) gaben insgesamt 4 unerwünschte Ereignisse von besonderem Interesse (AESI an; alles Überempfindlichkeitsreaktionen). Es wurden keine arzneimittelbedingten TEAEs, Inhibitorentwicklungen oder Todesfälle gemeldet. Zu den häufigsten TEAEs gehörten verschiedene Verletzungen oder Behandlungskomplikationen (19/268, 7,1 %), Infektionen oder Entzündungen (12/268, 4,5 %) und Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems oder des Bindegewebes (10/268, 3,7 %).

    Literatur: 

    K. Herbst, J. Oldenburg, M.T. Alvarez Román, M. Sanabria, G. Castaman, M. Janbain, T. Matsushita, K. Meijer, K. Schmidt, M.T. Reding. PW-08-07 Updated interim safety analysis of the real-world HEM-POWR study evaluating damoctocog alfa pegol in previously treated patients with haemophilia A (#72)67. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e.V. (GTH), 21.-24. Februar 2023 in Frankfurt (Hybrid). Poster Session POS-02; 23. Februar 2023.   

     

      Die hier berichtete Analyse der Chess-II – eine europäische, retrospektive, Burden-of-Illness-Studie – zeigte: In Hämophilie-A-Patienten aus Deutschland wurde eine verringerte Behandlungslast bei gleichzeitig besseren oder äquivalenten Blutungsergebnissen berichtet – Ergebnis der Prophylaxe mit Jivi® in der „Real World“.  

      Die Auswertung basierte auf Daten von Patienten mit Hämophilie A, die im Jahr 2020 in Deutschland auf Jivi® umgestellt wurden: Das Patientenkollektiv umfasste erwachsene Patienten ohne Inhibitor, die mindestens 3 Monate lang unter Alltagsbedingungen eine Prophylaxe mit Jivi® erhalten hatten. 32 Patienten erfüllten die Einschlusskriterien – davon hatten die meisten (n=29; 91%) eine schwere und 3 (9%) eine mittelschwere Hämophilie A.

      Daten zum Verbrauch lagen bei 30 Patienten vor. Der mittlere Zeitraum (SD) seit der Umstellung auf Jivi® betrug 32,1 (18,6) Wochen. 24 (80 %) Patienten hatten vor dem Wechsel ein FVIII-Produkt mit Standardhalbwertszeit erhalten. Nach der Umstellung verringerten sich die wöchentliche Injektionshäufigkeit bei 93 % und der IE-Verbrauch entsprechend bei 83 % Patienten der Stichprobe. Durchschnittlich (SD) wurden unter Jivi® 3.485 (684,2) IE/kg/Jahr verbraucht, unter der vorherigen Therapie waren es 5.040 (1.890,8) IE/kg/Jahr. Bei 22 Patienten waren zusätzliche Daten zu Blutungsereignissen verfügbar: bei 91 % reduzierte sich der IE-Verbrauch und bei allen 22 (100 %) die Injektionshäufigkeit. Der mittlere Verbrauch (SD) in dieser Subgruppe lag bei 3.530 (774,9) IE/kg/Jahr im Vergleich zu 5.591 (1.920,9) IE/kg/Jahr unter der vorherigen Therapie. Bei 82 % der Patienten zeigte sich unter Jivi® eine geringere jährliche Blutungsrate (ABR), jeweils 9 % berichteten über einen Anstieg bzw. keine Veränderung. Die mittlere (SD; Median) ABR sank von 4,6 (4,4; 2,2) auf 2,1 (1,8; 1,5).

      Literatur:
      Zhang W., Ferri Grazzi E., O'Hara J., Burke T EE359 Real-World Utilization, Treatment Frequency, and Bleeding Outcomes on Damoctocog Alfa Pegol in Haemophilia A Care: Insights From a German Cohort Within the CHESS II Study.
      Value Health 2022 25:12 (S125) DOI:https://doi.org/10.1016/j.jval.2022.09.605.

       

        Pilotfolge: Hintergrund und Methodik

        Osteoporose zählt neben der Arthrose zu den häufigsten und relevantesten Krankheiten des Skelettsystems. Ihre Inzidenz liegt bei rund 885.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Beachtenswert ist, dass circa jede zweite (52 %) von Osteoporose betroffene Person in Deutschland innerhalb von 3 Jahren eine krankheitsbedingte Fraktur entwickelt. Ab einem Alter von 50 Jahren weist ungefähr jede zweite Frau bzw. rund jeder fünfte Mann ≥1 osteoporotische Fraktur auf.

        Mit Blick auf Patienten mit Hämophilie weist diese Patientengruppe eine signifikant niedrigere Knochendichte auf, im Vergleich zu gleichaltrigen Gesunden.[1] Zudem ist die geringe Knochendichte bei Hämophilie-Patienten mit destruierten Gelenken, Muskelatrophie, einem niedrigen Body-Mass-Index (BMI) sowie mit Hepatitis-C-Virus (HCV)-Infektionen assoziiert.[2] Zwei Fall-kontrollierte Meta-Analysen zeigten einen Zusammenhang zwischen  Hämophilie und Osteoporose, allerdings konnte kein eindeutiger Einfluss von BMI, physischer Inaktivität und viralen Infektionen auf die Knochendichte (BMD) festgestellt werden.[3,4]

        Eine monozentrische prospektive Kohortenstudie untersuchte nun den Zusammenhang zwischen Hämophilie und Osteoporose und adressierte folgende Fragestellungen:

        • Ist die Prävalenz von Osteoporose bei Patienten mit Hämophilie erhöht, verglichen mit der Normalbevölkerung?
        • Hat der Schweregrad der Hämophilie einen Einfluss auf die Prävalenz von Osteoporose?
        • Korrelieren virale Komorbiditäten (Hepatitis C, HIV) mit der Osteoporose bei Hämophilie-Patienten?
        • Hat die physikalische Aktivität einen Einfluss auf die Prävalenz von Osteoporose?
        • Inwiefern beeinflusst der orthopädische Gelenkstatus die Prävalenz von Osteoporose?

        Eingeschlossen wurden 250 Patienten mit Hämophilie. Davon hatten 50 eine milde Verlaufsform, 50 eine moderate und 150 waren von einem schweren Verlauf betroffen. Als primäre Parameter wurden die Bone Mineral Density inklusive Messung der trabekulären Strukturen (TBS iNsight®) über duale Röntgen-Absorptiometrie (Horizon™ DXA, Hologic USA) sowie die Blutparameter Vitamin D und Calcium definiert. Zu den sekundären Parametern gehörten Hämophilie-assoziierte klinische Daten und Aktivität. Letztere wurde a) objektiv mittels elektronischer Tracker (Fitbit Alta Hr, Fitbit Inc., USA) erfasst und b) subjektiv anhand von Fragebögen erhoben. Weitere sekundäre Parameter bildeten Gelenk- und Schmerzstatus sowie Lebensqualität. Als Kontrollparameter dienten medizinische Anamnese und Blutparameter, um sekundäre Osteoporosen auszuschließen.

        Fortsetzung folgt: Ergebnisse, Schlussfolgerung und Diskussion sind für die nächsten hemoTICKER-Ausgaben geplant.

        Quelle:
        Vortrag von PD Dr. Andreas C. Strauß, Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Bonn, „Neue Erkenntnisse: Die weltweit größte Studie zu Hämophilie A und Osteoporose“, auf dem Bayer-Symposium, am 23. Februar im Rahmen der 67. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e.V. (GTH), 21.-24. Februar 2023 in Frankfurt (Hybrid).

        Literatur:
        1. Gallacher SJ, Deighan C, Wallace AM, Cowan RA, Fraser WD, Fenner JA, Lowe GD, Boyle IT.
        Association of severe haemophilia A with osteoporosis: a densitometric and biochemical study. Q J Med. 1994 Mar;87(3):181-6. PMID: 8208906.

        2. Wallny TA, Scholz DT, Oldenburg J, Nicolay C, Ezziddin S, Pennekamp PH, Stoffel-Wagner B, Kraft CN. Osteoporosis in haemophilia - an underestimated comorbidity? Haemophilia. 2007 Jan;13(1):79-84. doi: 10.1111/j.1365-2516.2006.01405.x. PMID: 17212729.

        3. Iorio A, Fabbriciani G, Marcucci M, Brozzetti M, Filipponi P. Bone mineral density in haemophilia patients. A meta-analysis. Thromb Haemost. 2010 Mar;103(3):596-603. doi: 10.1160/TH09-09-0629. Epub 2010 Jan 13. PMID: 20076854.

        4. Paschou SA, Anagnostis P, Karras S, Annweiler C, Vakalopoulou S, Garipidou V, Goulis DG. Bone mineral density in men and children with haemophilia A and B: a systematic review and meta-analysis. Osteoporos Int. 2014 Oct;25(10):2399-407. doi: 10.1007/s00198-014-2773-7. Epub 2014 Jul 8. PMID: 25001982.

         

          Hämophilie A heute: Eine individualisierte Therapie

          Referent: PD Dr. Robert Klamroth

          Die im Jahr 2020 aktualisierten nationalen und internationalen Leitlinien empfehlen für Patienten mit schwerer Hämophilie A und für einige Patienten mit mittelschwerer Hämophilie A die dauerhafte Prophylaxe. Eine Bedarfstherapie ist keine langfristige Option. Um die für die Dauerbehandlung erforderlichen FVIII-Talspiegel von 3 bis 5 % zu erreichen, wurden rekombinante Extended-Half-Life-FVIII-Produkte (EHL-rFVIII) entwickelt. Allerdings unterscheiden sich EHL-rFVIII signifikant in ihrer Pharmakokinetik.

          Die Fortbildung behandelt die Themengebiete: Langzeitergebnisse von EHL-rFVIII-Produkten, die Dosierung im Rahmen einer personalisierten Prophylaxe, PK-adjustierte Prophylaxe und digitale Dokumentation mit Smartphone-Apps.

          Gut zu wissen

          • Dauer der von der Bayer Vital GmbH gesponsorten Fortbildung:
            14.12.2022 - 13.12.2023
          • Punkte: 3 CME-Punkte (Kategorie D)
          • Das eTutorial beinhaltet einen Vortrag, ein Handout (pdf) und eine Lernzielerfolgskontrolle

           

          Hier können Sie die CME-Fortbildung aufrufen

           

            Die individualisierte Prophylaxe – Patientenstimmen   

            Ein Meilenstein in der Hämophiliebehandlung war die Verfügbarkeit von rekombinanten Gerinnungsfaktorkonzentraten zunächst in den 1970er Jahren und dann in den 1990er Jahren. Diese Therapieformen ermöglichten nicht nur die Behandlung episodischer Blutungen, sondern auch die Durchführung prophylaktischer Therapien.[1]

            In den meisten Ländern werden seit langem so genannte rekombinante FVIII (rFVIII)-Präparate mit Standard-Halbwertszeit (SHL) eingesetzt, um Hämophilie-A-Patienten sowohl bei Bedarf als auch prophylaktisch zu behandeln: Die Halbwertszeit dieser SHL-FVIII-Präparate liegt bei 11 bis 16 Stunden, was alle 24 bis 72 Stunden eine Injektion notwendig macht – eine für den Patienten und seine Familie oftmals belastende Situation. Um die terminale FVIII-Halbwertzeit zu verlängern, wurden sowohl die physiologischen als auch die Pharmakokinetik (PK)-Eigenschaften verändert. Die Vorteile dieser Präparate mit verlängerter Halbwertszeit (EHL) sind deutlich: Ein EHL-FVIII-Produkt kann weniger häufig injiziert werden, ohne dass die Wirksamkeit beeinträchtigt wird oder die Intervalle werden mit deutlich höheren Faktorspiegeln beibehalten[2]

            Eine weitere Besonderheit der EHL-FVIII-Produkte, insbesondere Damoctocog alfa pegol (Jivi®), ist die Option einer individualisierten Therapie – eine Therapieform, die es ermöglicht, die Faktorgabe dem Lebensstil anzupassen und beispielsweise bei zu erwartenden Sportaktivitäten den Faktor ein paar Stunden später oder früher zu spritzen. Die Mitglieder des Redaktionsteams interessierte, wie ihre Patienten die Möglichkeiten der individualisierten Prophylaxe wahrnehmen und welche psychologischen Implikationen sich daraus ergeben – und fragten nach.    

            Dr. Georg Goldman, Bonn, interviewte einen 42-jährigen Patienten mit schwerer Hämophilie:

            Wie oft wird die Prophylaxe gespritzt?

            Bevor ich den Wechsel auf ein EHL durchführte, hatte ich ein sehr striktes Substitutionsregime mit Faktorgaben alle 2 Tage. Ich war immer sehr sportlich und habe zu dieser Zeit meine Aktivitäten genau auf die Substitutionstage gelegt. Aufgrund meiner enormen Angst vor Blutungen waren für mich die substitutionsfreien Tage immer sehr inaktiv. Das heißt, ich ließ meine sportlichen Aktivitäten in der Regel ruhen oder musste nach Absprache einmal extra substituieren.

            Durch die Umstellung auf ein EHL-Faktorkonzentrat konnte ich die Substitutionen nicht nur auf alle 3 Tage, bzw. manchmal 2 x die Woche legen, sondern habe jetzt im Vergleich zur Vortherapie noch bessere FVIII-Spiegel.

            Warum wurde das Schema so gewählt?

            Ich hatte meinen Behandler gebeten, bei Umstellung auf ein EHL-Produkt zu versuchen, mein Spritzintervall auszudehnen – und ohne Verschlechterung meines Blutungsschutzes. Zudem wollte ich meinen Sport auch unabhängig von den Spritztagen durchführen. Die Einstellung erfolgte dann mit meinem Behandler nach Abnahme einiger Gerinnungswerte unter dem neuen Faktor am Computer. Ich selbst habe eine App erhalten, die es mir ermöglicht, meine Faktorspiegel zu verfolgen.

            Welche allgemeinen Pluspunkte in der individualisierten Prophylaxe ergeben sich aus Patientensicht?

            Am wichtigsten für mich war, dass ich jetzt die Möglichkeit habe, meine sportlichen Aktivitäten nicht nur an den Substitutionstagen durchzuführen. Zudem gibt mir die App das Gefühl, mehr Kontrolle über meine Therapie zu haben. Ich hatte neulich ein Date und mir dabei leider beim Hinsetzen den Kopf an einer Kante gestoßen. Ich habe dann sofort auf meiner App den aktuellen Faktorspiegel nachgeschaut und dieser lag glücklicherweise so hoch, dass ich nicht sofort nach Hause zum Spritzen musste. Das war total erleichternd und beruhigend. 

            Gab es eine konkrete Situation, in der sich die individualisierte Prophylaxe als besonders vorteilhaft erwies?

            Als ich Strandurlaub machte, bei dem ich mich wirklich ohne jeden Sport ausgeruht habe, hielt ich meine Spritztage auch Dank der App sehr individuell. Das hat mir eine große Freiheit vermittelt.

            Ein Patient von Dr. Sonja Alesci, Bad Homburg, berichtete:

            Ich habe leider durch meine Kindheit, in der ich nicht ausreichend mit Faktor versorgt wurde, und einigen Blutungen nach einem Sportunfall einen Gelenkschaden. Eine OP, zu der ich mich erst jetzt entscheiden konnte, steht an. Im Moment erhalte ich überbrückungsweise eine hohe Dosis und spritze teilweise alle 2 Tage. Vor 2 Jahren habe ich noch alle 4-5 Tage gespritzt – damals trieb ich aber weniger Sport und war jünger. Ich bin froh, dass ich meine Therapie an meinen Lebensstil anpassen kann.

            Dr. Kai Severin, Köln, im Gespräch mit einem 52-jährigen Patienten:  

            Wie oft wird die Prophylaxe gespritzt? 

            Ich muss zugeben, dass ich in der Vergangenheit mit meiner Prophylaxe ziemlich „geschlampt“ habe, da ich damals wenig Gelenkprobleme hatte. Ich ärgere mich heute, da ich jetzt (über 50) zunehmend Probleme vor allen Dingen in den Sprunggelenken habe. Ich bin nun auf ein EHL-Produkt umgestellt worden, das ich jetzt konsequent zweimal die Woche spritze. Ich gehe regelmäßig ins Fitnessstudio. Anders als früher fühle ich mich nun freier dort hinzugehen, wann ich möchte. Entweder habe ich noch genügend Restspiegel, oder ich spritze halt kurz vorher noch einmal nach.

            Warum wurde dieses Schema so gewählt? 

            Ich möchte möglichst wenig nachdenken müssen und habe mit der jetzt regelmäßigen Gabe die Sicherheit, dass meine Talspiegel sich in einem sicheren Niveau bewegen. Ich habe aber die Freiheit, natürlich jederzeit bei bevorstehenden Belastungen auch noch etwas dazu zu spritzen. Ich merke leider erst jetzt im „Alter“, dass ich mich mehr um meine Gelenke kümmern muss.

            Welche Pluspunkte hat die individualisierte Prophylaxe? 

            Ich fühle mich freier, habe weniger schlechtes Gewissen. Und ich weiß, dass ich, wenn mir mal etwas passiert, zumindest einigermaßen ausreichende Spiegel habe. Dies trägt erheblich zu meiner Lebensqualität bei, die ich zunehmend zu schätzen und erhalten lerne.

            Literatur:
            1. Massimo Franchini, Pier Mannuccio Mannucci. Review Article: The More Recent History of Hemophilia Treatment. Semin Thromb Hemost 2022; 48(08): 904-910. DOI: 10.1055/s-0042-1756188.

            2. Bukkems LH, Preijers T, van Spengler MWF, Leebeek FWG, Cnossen MH, Mathôt RAA. Comparison of the Pharmacokinetic Properties of Extended Half-Life and Recombinant Factor VIII Concentrates by In Silico Simulations. Thromb Haemost. 2021 Jun;121(6):731-740. doi: 10.1055/s-0040-1721484. Epub 2021 Jan 27. PMID: 33506481.

             

              Laura H. Bukkems et al. ermittelten Pharmakokinetik (PK)-Unterschiede für verschiedene rekombinante Faktor VIII (rVIII) Produkte mit verlängerter Halbwertszeit (EHL) mittels Monte Carlo Simulationen. Diese erfolgten anhand einer virtuellen Population von 1.000 Patienten mit schwerer Hämophilie A bei einer Steady-State-Dosierung von 40 IE/kg alle 72 Stunden oder einer Dosierung gemäß der Fachinformation. Dabei erzielte Jivi® die höchste Area-under-the-Curve (AUC) und die besten Ziel-Talspiegel gegenüber rFVIII-Produkten mit Standardhalbwertszeit (SHL), vor BAX 855 (Adynovi®) und rFVIII-Fc (Elocta®).

              Berücksichtigt wurden die Produkte rFVIII-Fc (Elocta®), und die Produkte mit PEGyliertem, rekombinanten FVIII: BAX 855 (Adynovi®), und BAY 94-9027 (Jivi®). rFVIII-SC (Afstyla®) und BAY 81-8973 (Kovaltry®) bezogen die Studienautoren ebenfalls ein: Beide Präparate zeigen verbesserte PK-Merkmale, die die FVIII-Stabilität verbessern, doch ist umstritten, ob sie die Kriterien für ein EHL-Produkt erfüllen.[1] Die verschiedenen EHL-FVIII Konzentrate wurden mit Standardhalbwertszeit (SHL) rFVIII-Produkten verglichen, wie Advate® und Kogenate®, erläutern die Studienautoren.   

              Auch wenn die Eliminationshalbwertszeit für rFVIII-FC, BAX 855 und BAY 94-9027 vergleichbar waren, zeigte Jivi® (BAY 94-9027) die höchste mediane AUC (2.779 IE/h/dl), gefolgt von BAX 855 (AUC: 1.851 IE/h/dl und rFVIII-Fc (AUC: 1.680 IE/h/dl); BAY 81-8973 und rFVIII-SC wiesen geringe Anstiege der medianen AUC-Werte auf, verglichen mit SHL rFVIII (1.259 IE/h/dl).

              Um einen besseren potentiellen klinischen Einblick in die Auswirkungen der unterschiedlichen PK-Eigenschaften der FVIII-Präparate unter der Steady-State-Dosierung von 40 IE/kg alle 72 Stunden zu erhalten, wertete die Arbeitsgruppe die Zeit aus, bei denen die Talspiegel der virtuellen Patienten pro Woche (entspricht 168 Stunden) über 1 IE/dl lagen. Bei allen untersuchten Präparaten sank der FVIII-Spiegel bei mindestens jedem zweiten Patienten (50 %) nicht unter 1 IE/dl. Das beste Ergebnis wurde bei Jivi® (BAY 94-9027) beobachtet. So hielten 58,5 % (rFVIII-SC), 69,3 % (BAY 81-8972), 89,0 % (rFVIII-Fc), 83,9 % (BAX 855) und 93,7 % (BAY 94-9027) der Patienten einen Talspiegel von 1 IE/dl aufrecht. Zum Vergleich: Bei SHL rFVIII waren es 56,0 %.

              Literatur:
              Bukkems LH, Preijers T, van Spengler MWF, Leebeek FWG, Cnossen MH, Mathôt RAA.
              Comparison of the Pharmacokinetic Properties of Extended Half-Life and Recombinant Factor VIII Concentrates by In Silico Simulations. Thromb Haemost. 2021 Jun;121(6):731-740. doi: 10.1055/s-0040-1721484. Epub 2021 Jan 27. PMID: 33506481.

              Weitere Quellen:
              1. Mahlangu J, Young G, Hermans C, Blanchette V, Berntorp E, Santagostino E. Defining extended half-life rFVIII-A critical review of the evidence.
              Haemophilia 2018;24(03):348–358.

                Aktualisierte Leitlinie „Synovitis bei Hämophilie“

                Neue Perspektiven für Ärzt:innen und Patienten

                Für die aktualisierte Version der Leitlinie Synovitis bei Hämophilie wurden 712 Literaturquellen ausgewertet und davon 259 verwendet.

                Hier sind die wesentlichen Aussagen zu den Änderungen der aktualisierten Leitlinie zusammengestellt:

                Pathogenese

                „Ein Schlüsselfaktor für die Entstehung der Synovitis ist die Vulnerabilität der fragilen Gefäßneubildungen“

                Hinsichtlich der Pathogenese stammen die meisten Erkenntnisse aus tierexperimentellen Studien. Eine Kombination aus biomechanischen und immunologischen Einflüssen bewirkt ein Wechselspiel zwischen synovialen und kartilaginären Entzündungsvorgängen. Dabei handelt es sich um einen dynamischen Prozess, der insbesondere bei stärkerer mechanischer Belastung mit der Entwicklung der hämophilen Arthropathie assoziiert ist. Eine anomale vaskuläre Neubildung bleibt nach einer Gelenkblutung für Monate bestehen.

                „Die Synovitis tritt unmittelbar nach einer Blutung auf“

                Blutungen erkennen – Eine schnelle Diagnostik und Therapie verkürzen die Rehabilitation.

                „Der intensivere Einsatz des Ultraschalls wird in der regelmäßigen Kontrolle der Therapie von Patienten mit Hämophilie empfohlen“

                Eine in der Magnetresonanztomografie (MRT) nachgewiesene synoviale Hypertrophie geht mit einem deutlich erhöhten 5-Jahres-Risiko einer Gelenkblutung (80%) einher. Grundsätzlich sollten bei Kindern nach Möglichkeit diagnostische Methoden ohne Strahlenexposition zum Einsatz kommen (Sonographie, MRT).

                Blutungen behandeln – konsequentes Handeln kann Folgeschäden verhindern.  

                „In Einzelfällen wird zur Reduktion rezidivierender, auch subklinischer Blutungen, der damit verbundenen Besserung der Schmerzsymptomatik und zur Durchführung einer Physiotherapie vorübergehend ein Anheben des Talspiegels auf ≥ 20–30 % empfohlen. (Konsens)“

                Bezüglich der Faktorsubstitution wurden die Therapieempfehlungen der „Querschnittsleitlinien der Bundesärztekammer“, die „European Directorate for Quality of Medicines and Healthcare“ (EDQM)-Gruppe sowie der „WFH-Leitlinien“ übernommen. Eine individualisierte, prophylaktische Substitutionstherapie bei Kindern und Erwachsenen mit schwerer Hämophilie hebt die Talspiegel auf ≥ 3–5 %.

                „Bei akuter Einblutung in ein Gelenk soll frühzeitig eine Abpunktion des Hämarthros unter Faktor-Therapie durchgeführt werden“

                Bei akuter Gelenkblutung mit relevantem Erguss sollten 1. ein Nachweis mit Ultraschall und 2. eine frühzeitige Punktion durchgeführt werden.

                „Physiotherapie sollte frühzeitig begonnen und konsequent durchgeführt werden“

                Bei der Physiotherapie zeigen manuelle und Faszien-Therapie positive Effekte. Eine Faszien-Therapie soll nur durch mit dem Krankheitsbild erfahrene Therapeuten und unter Anwendung einer unmittelbaren prophylaktischen Faktorentherapie stattfinden.

                „Eine neuere Untersuchung zeigt kein erhöhtes Malignomrisiko bei Patienten, die als Kinder oder Jugendliche eine Radiosynoviorthese (RSO) bekommen haben“

                Bei chronischer Synovitis bei Hämophilie soll neben ausreichender Faktor-Substitution und nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) die RSO als Therapie der ersten Wahl frühzeitig eingesetzt werden. Die Indikation zur RSO besteht, laut neuerer Literatur, bei Nachweis einer Synovitis und nicht nur, wie in älteren Arbeiten, bei rezidivierender Gelenkblutung. Eine RSO kann die Entwicklung einer Hämarthropathie hinauszögern. Zudem ist kein Mindestalter für die RSO etabliert. Neuere Arbeiten nennen ein Alter von 1 oder 2 Jahren. Außerdem wurde kein erhöhtes Malignomrisiko bei Patienten beobachtet, die als Kinder oder Jugendliche eine RSO erhielten.

                Blutungen vorbeugen – regelmäßige Kontrolle und individuelle Therapie

                „Bei allen Patienten mit Hämophilie ist eine jährliche Ganganalyse zu empfehlen“

                Eine Alternative ist die Timed Up and Down Stairs – hierbei ist der individuelle Verlauf ein wichtiger Aspekt.

                Versorgung verbessern – pragmatisches Vorgehen in einem Gesamtkonzept

                „Eine regelmäßige Verlaufskontrolle auch bei klinisch unauffälligen Gelenken sollte alle 6-12 Monate zum Screening, bei diagnostizierter Synovitis in kürzeren Abständen, erfolgen“

                Quelle:
                Vortrag von PD Dr. Björn Habermann (Gemeinschaftspraxis für Orthopädie am Fürstenhof, Frankfurt am Main) „Neue Perspektiven für ÄrztINNen und Patienten: Aktualisierte Synovitis-Leitlinie“ auf dem Bayer-Symposium am 23. Februar im Rahmen der 67. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e.V. (GTH), 21.-24. Februar 2023 in Frankfurt (Hybrid).

                   
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